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Zeitgemäße Prüfungskultur

Eindrücke aus zwei Clubhouse-Diskussionen

Björn Nölte ☕
4 min readFeb 5, 2021

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Am 26.01. und am 02.02.21 moderierte ich Gespräche bei Clubhouse, die zeitgemäße Prüfungskultur zum Thema hatten. Das erste Mal mit Hendrik Haverkamp, das zweite Mal mit Jennifer Steckel. Im Vorfeld gab es in anderen sozialen Netzwerken Kritik: Ein elitäres Netzwerk, zu dem viele Interessierte gar keinen Zugang haben, das ein bestimmtes Gerät und eine “Einladung” eines Mitglieds voraussetzt — das widerspreche doch den Gedanken von offenem Zugang, gleichberechtigter Kommunikation, kurz: allem, wofür die offene Netzkultur sich einsetzt. Wir haben diese Diskussionen trotzdem durchgeführt. Die Einwände sind berechtigt und nachvollziehbar. Dennoch erprobten wir die (Stand: 02.02.21) neue Möglichkeit des Diskutierens und siehe da: Es geht unhierarchisch, gepflegt, teils kontrovers und interessant zu. “Leave quietly” und “Join quietly” sorgen dafür, dass Einstiegshürden gering, die Vielfalt der Teilnehmenden hoch, der Diskussionsfluss kontinuierlich und der gedankliche Gehalt hoch waren. Einige Gedanken aus diesen Diskussionen möchte ich hier zugänglich machen, damit sie auch für Personen ohne Clubhouse-Zugang erreichbar sind und damit sie generell erhalten bleiben.

Die erste Diskussion hatte den schulischen Fokus, Hendrik Haverkamp stellte die praxiserprobte Vorgehensweise an seiner Schule vor. Dort wird in jedem Fach in jeder Jahrgangsstufe ein sogenanntes alternatives Prüfungsformat statt einer Klassenarbeit durchgeführt, wodurch diese lernförderliche Form der Bewertung statt des Exotischen im Gewand des Normalen daherkommt. Aus der anschließenden Diskussion mit den ca. 40 Teilnehmenden möchte ich exemplarisch einzelne Punkte herausgreifen:

  1. Die Leistungsbewertung im Fach Kunst wurde herangezogen, um möglicherweise als Modell für andere Disziplinen zu dienen. Ein Teilnehmer berichtete, dass Leistungsüberprüfungen bei ihm im Fach Kunst nicht die Reproduktion forderten, also die Wiederholung vorher gelernten Wissens und auch nicht die Anwendung von Analysekompetenzen ähnlich einer textorientierten Interpretation, sondern das Kreieren, Schaffen, von etwas Neuem. Das passiert auf der Grundlage erworbener Kenntnisse und teils auch auf der Grundlage erfolgter Analyse und Interpretation, aber das zu Bewertende ist das Neue, die Eigenkreation, die daraus entsteht. Das führe zu zwei Konsequenzen. Zum Einen ist die Bewertung dann ein höchst individueller Vorgang: Die Kreationen der Schüler ließen sich aufgrund der unterschiedlichen Vorgeschichten nicht nach vergleichbaren Maßstäben bewerten. Zum Anderen ist das Thema Betrügen kaum relevant; Reproduzierbares Wissen wird nicht abgefragt, ist aber die Grundlage für den eigenen Schaffensprozess, den kaum ein Zweiter oder eine Hilfe übernehmen kann.
  2. Aus dem Fach Sport kam die Anregung, dass es dort sehr verbreitet sei, zunächst eine Ausgangsdiagnose durchzuführen, um dann nach einer Schlussfeststellung die Entwicklung zu bewerten, statt der vermeintlich objektiven gleichen Werte für alle. Der Prozess rückt damit verstärkt in den Blick gegenüber dem Produkt.
  3. Es kam die Frage auf, wie denn mit skeptischen Eltern umzugehen sei, die neuen Prüfungsformaten skeptisch gegenüber stehen. Ein Teilnehmer steuerte seine Seepferdchen-Geschichte bei. Er empfahl, kritischen Eltern damit zu begegnen. Das Seepferdchen-Abzeichen belegt, dass man schwimmen gelernt hat. Viele haben persönliche Erinnerungen an diesen Vorgang. Nun gibt es allerdings auch Kinder, die kein Seepferdchen haben und trotzdem gute Schwimmer sind. “Was möchten Sie für Ihr Kind: Dass es gut schwimmen kann oder dass es das Abzeichen trägt?” Auch der Vorgang der Seepferdchen-Prüfung war nicht für jedes Kind angenehm (für einige allerdings wahrscheinlich schon). Das Abzeichen könne man gerne “auch so” verteilen, entscheidend sei ihm als Schwimmlehrer, dass man jedes Kind mit dem Können versieht, im Swimming-Pool nicht unterzugehen und darüber hinaus jedem einzelnen Kind durch 1:1-Begleitung dazu verhilft, im Wasser noch sicherer und schneller zu werden.

Beim zweiten Termin lag der Fokus auf der Leistungsbewertung an Universitäten. Jennifer Steckel berichtete aus der universitären Praxis. Schnell ging die Diskussion in Richtung grundsätzlicher Überlegungen zur Theorie-Praxis-Verbindung, so dass wieder deutlich wurde: Das Thema Prüfungen kann nicht isoliert betrachtet werden, sondern hängt originär mit der gesamten Lernkultur der Organisaiton zusammen.

Besonders in Erinnerung geblieben ist mir der Hinweis auf die französischen Kompetenznachweise. An einigen dortigen Bildungseinrichtungen sei es möglich, statt durch zentral festgelegte Prüfungen durch sogenannte Kompetenznachweise zu seiner Abschlusszertifikation zu gelangen. Wenn ich als Lernender der Meinung bin, so weit zu sein, reiche ich meinen Kompetenznachweis ein, der geprüft und lediglich in den Kategorien erfüllt/nicht erfüllt bewertet wird [eigentlich ähnlich dem Prinzip eines geisteswissenschaftlichen Studiums in den 90er Jahren: “Schein” erhalten oder nicht erhalten]. Ist die ausreichende Zahl von Kompetenznachweisen erreicht, gibt es das Abschlusszertifikat. In dieser Denke ist die Bringschuld umgedreht. Der Gedanke lässt sich meines Erachtens auch auf andere Bewertungszusammenhänge anwenden: Weg von der vorgegebenen, hingestellten Hürde, über die alle gleichzeitig springen müssen un dhin zu der Offerte, sein Können zu dem Zeitpunkt und in der Form zu zeigen, wie es der/m Lernenden am passendsten erscheint.

Am kommenden Dienstag (09.02.21) um 18:00 wird der Fokus nun auf der Brücke zwischen Universität und Schule liegen: Warum ist die Verbindung der beiden Sphären noch immer eher von Entfernung als von Nähe geprägt? Wieso finden wissenschaftliche Erkenntnisse oft schwerlich in die Schule, wieso ist auch der umgekehrte Weg so schwierig? Und was macht das mit Lernbiografien im Kontext der aktuellen Prüfungskultur? Mit Dr. Lena Florian von der Uni Potsdam und allen interessierten Teilnehmenden diskutieren wir am 09.02. Lösungsmöglichkeiten, best practice und verbreiten Zuversicht.

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Björn Nölte ☕

Teaching & Learning in Berlin, Germany — Referent Schulaufsicht der Ev. Schulstiftung in der EKBO | früher: Lehrer, Seminarleiter, Oberstufenkoordinator