Photo by Denys Nevozhai on Unsplash

Portfolios im Referendariat

Eine Ergänzung der Leistungsbewertung in der Lehrerbildung

Björn Nölte ☕
7 min readJan 2, 2021

--

Portfolios sind im Bildungskontext nicht neu, auch E-Portfolios nicht. Probleme der Leistungsbewertung im Referendariat sind auch nicht neu. Selbst meine Erfahrungen damit sind nicht neu, beruhen sie doch auf eigener Praxis im Rahmen meiner Tätigkeit als Hauptseminarleiter am Studienseminar Potsdam, die schon etwas zurückliegt. Und doch: Portfolios im Referendariat bieten so viele Chancen, dass sich die Verbreitung der Idee nach wie vor lohnt. Auch können Sie ein Geburtshelfer für die Etablierung eines neuen Leistungsverständnisses und einer neuen Kultur der Leistungsbewertung sein.

Portfolio

Das Portfolio hat den hauptsächlichen Zweck, der Reflexion des Lernprozesses der/s Lernenden zu dienen. D. h. es ist zuallererst für die/den Lernende/n da. Denn anders als ein physisches Portfolio ist die digitale Variante veränderbar, erweiterbar; und kann mit differenzierten Lese- oder Kollaborationsrechten ausgestattet werden. Dieses Portfolio ist kein stiller Sammelort, der dann erst am Ende des Sammelns für den Adressaten geöffnet wird, sondern er “lebt” schon während des Sammelprozesses. Wichtig ist, dass es von Beginn an zum Projekt des jeweils Lernenden gemacht wird, sonst kann es seine Wirksamkeit nicht entfalten. Wir hatten es damals so gehandhabt: Jeder Referendar war verpflichtet, einen sogenannten Entwicklungsbericht anzufertigen, mit gewissen Vorgaben, aber grundsätzlich in freier Gestaltung, analog oder digital. Der Sinn dahinter: Strukturierte Sammlung der eigenen Entwicklung. Zur Hälfte der Ausbildung fand ein Entwicklungsgespräch statt, dessen vorbereitende Grundlage neben einem Online-Fragebogen auch aus dem aktuellen Stand des Entwicklungsberichtes war. Einige gestalteten einen Papier-Hefter, andere machten von der Möglichkeit Gebrauch, ein digitales Portfolio anzulegen.

Was ins Portfolio wandert, entscheidet die Referendar*in selbst. Folgende Bereiche sind darin z. B. angelegt worden:

  • Dokumentation der eigenen Unterrichtsbesuche (wahlweise mit Unterrichtsplanung, Rückmeldungen der Besucher, eigene Reflexion)
  • Berichte von Hospitationen im Kollegium
  • Besondere eigene Unterrichtsvorhaben
  • Dokumentationen von Exkursionen und Klassenfahrten
  • Alle Erkenntnisse der Referendarin zu ihrer Entwicklung, die aus den verschiedensten Reflexionsinstrumenten gewonnen wurden, die in den Seminaren eingesetzt wurden.
  • Zwischenbeurteilungen und eigenen Kommentierung
  • eigene Stellungnahme zu Abschlussbewertungen

Mobiles Lernen

In der digitalen Variante ist es möglich, jederzeit auf das Portfolio zuzugreifen, es zu ergänzen und einzusetzen. So konnten die Referendare während Seminarsitzungen leicht Elemente ihres Portfolios einbringen. Bei Unterrichtsbesuchen in Schulen konnte direkt mit dem Portfolio gearbeitet werden. Fotos u. ä. auf außerunterrichtlichen Aktivitäten konnten direkt ins Portfolio kopiert werden. Die Referendare lernten damit einen unkomplizierten workflow kennen.

Zugriff

Die Referendarin bestimmt vollkommen frei, welche Personen auf welche Bereiche des Portfolios oder überhaupt auf das Portfolio Zugriff haben. Webseiten oder Portfolio-Tools bieten die Möglichkeit, bestimmte Areale passwortgeschützt zugänglich zu machen. Nun konnte es z. B. sein, dass einer der beiden Fachleiter vom Referendar als hilfreich, unterstützend und konstruktiv wahrgenommen wurde und somit Zugang zu allen Notizen und gemeinsamen Protokollen von Unterrichtsbesuchen erhielt, der andere Fachleiter aber eventuell nicht. Für mich als Hauptseminarleiter war es eine wunderbare Möglichkeit, vor einem Unterrichtsbesuch im Portfolio der Referendarin nachzusehen, was denn zu bestimmten Aspekten der Unterrichtsplanung beim letzten Besuch mit Fachleiterin Y besprochen wurde und welche eigenen Entwicklungsschwerpunkte die Referendarin im Anschluss formulierte. Transparenz und Verknüpfung at its best für beide Seiten. Eine Folge war, dass ich mit den Kollegen der Fachseminare konkretere Gespräche eingehen konnte. Mit dem Umstand, von einer Referendarin nicht den Zugang zum kompletten Portfolio zu erhalten, hätte ich selbstverständlich auch leben müssen. Manch ein Referendar teilte sein Portfolio auch mit einer Ausbildungslehrkraft.

Individuelle Wahl des Tools

Von großer Bedeutung war die Frage, mit welchem Tool denn das E-Portfolio anzufertigen sei. Mit Mahara und ähnlichem gibt es ja Lösungen, die explizit dafür entwickelt wurden. Mein Ansatz war hier, den Referendar*innen einige Lösungen vorzustellen und ihnen dann aber die Entscheidung zu überlassen. Ich halte es für ausgesprochen wichtig, dass sich die/der Ersteller*in mit seinem Produkt identifiziert, da es ja für lange Zeit, auch über die Ausbildungszeit im Referendariat hinaus, als Arbeitsinstrument in Gebrauch sein soll. Die Palette reicht von Präsentationstools wie Google Slides, genial.ly, canva etc. über strukturierte Lösungen wie Mahara bis hin zu eigenen Webseiten über wordpress oder jimdo. Der Vorgang der Gestaltung des eigenen Portfolios (Aufbau, Umfang, Verlinkungen etc.), auch im Bereich des Designs — ist nicht nur erkenntnisfördernd, sondern auch sehr motivierend für die Beteiligten. Und aus Seminarleitersicht ist die Vielfalt individueller Lösungen nicht nur abwechslungsreich, sondern auch anregend für das Nachdenken über die dahinter stehende Person. In dem Zuge werden nicht nur Urheberrechtsfragen aktuell, sondern auch eine Bestandsaufnahme der verschiedenen Freigabe-, Veröffentlichungs- und Präsentationsmöglichkeiten der Tools.

Kollaboration

In der digitalen Variante der Portfolios ist es möglich, kollaborativ zu arbeiten und diese Arbeit in der späteren Funktion des Präsentations-Portfolios auch abzubilden. Seminarleiter können bei Unterrichtsbesuchen in der Vor- und Nachbereitung sowie während des Besuchs kollaborativ vorgehen, in dem z. B. gleichzeitig kommentierend auf die verlinkte Unterrichtsplanung zugegriffen wird. Schwerpunkte der Unterrichtsplanung können dann vom Referendar für spätere Dokumentationszwecke ausgewählt und im Präsentations-Bereich für Bewerbungen dargestellt werden. Referendare können mit anderen kollaborativ zusammenarbeiten und diese Zusammenarbeit im Portfolio abbilden; für Bewerbungszwecke können Prozesse und Ergebnisse gebündelt dargestellt werden.

Instrument zur Bewerbung

Die entstandenen E-Portfolios wurden zur Bewerbung nach dem 2. Staatsexamen genutzt. Eine Absolventin berichtete später, dass es in Bewerbungsprozessen schon per se als bemerkenswert betrachtet wurde, dass sie mit diesem Instrument aufwarten konnte — und ihr dieser Umstand zum Vorteil gereichte. Eine andere berichtete, dass ihr im Vorstellungsgespräch von einem Schulleiter gesagt wurde, dass man ja schon lange um die Relativität der Abschlussnote wisse, ihr deswegen immer weniger Bedeutung beimesse, vor allem im Zuge deutschlandweiter Bewerbungen; und dass man mit diesem Portfolio nicht nur eine gute Dokumentation des pädagogischen Profils der Bewerberin habe, sondern auch eine substantielle Grundlage für das Bewerbungsgespräch. Wie genau und ob das Portfolio dann als Präsentation für Bewerbungen genutzt wird, bleibt wieder in der Hand der Referendarin. Hier kann der Hinweis nützlich sein, von Vornherein diese Funktion mitzudenken, um einen entsprechenden Bereich einzurichten oder die Freigabeeinschränkungen anzudenken. Eine Referendarin hatte in ihrem Portfolio ihre ehemalige Schulleitung direkt als digital erreichbare Referenz im Portfolio verlinkt.

Entwicklung von Prüfungskultur

Prüfungsordnungen werden von Verwaltungsjuristen geschrieben. Änderungen sind hier wohl sehr schwerfällig zu realisieren. Wenn aber die E-Portfolios oder ähnliche Formen als flankierende Maßnahme im Bewusstsein sowohl der Referendare als auch der einstellenden Schulleitungen an Bedeutung gewinnen, so wie ich es beobachten konnte (“das Portfolio war wichtiger als die Abschlussnote”), ist ein wichtiger Schritt gegangen. Angehende Lehrkräfte, die sich mit dem E-Portfolio selbst erfolgreich erlebt haben, übertragen Haltung und Gedanken dazu möglicherweise auf ihr professionelles Handeln im Bereich der Leistungsbewertung ihrer Schüler. Und so kann hier ein Impuls gesetzt werden, um die schulische Praxis vonseiten der Referendare zu erfrischen. Besonders wichtig ist dieser Bereich und auch besonders ergiebig, da der Umgang mit der eigenen Leistung im Referendariat zu den neuralgischen Stresspunkten des Referendariats gehört und positive Erfahrungen in diesem Bereich sehr wirksam sein können. Und auch Schulleitungen, die Bewerberinnen erleben, die mit ihrem E-Portfolio differenziert ihren Werdegang reflektieren können, lassen sich daraufhin vielleicht eher zu einer Aktualisierung der Prüfungskultur an ihrer Schule ein.

In der Corona-Zeit hat sich zu oft eine Haltung gezeigt, die man beschreiben kann mit “Warten auf das, was von oben kommt” — z. B. “Mal sehen, ob es am 10.01. wirklich mit Präsenzunterricht weitergeht” oder “Die haben uns jetzt schon so oft mit widersprüchlichen/späten/komplizierten/keinen Anweisungen überhäuft, mal sehen, was als Nächstes kommt.” oder “Hoffentlich besinnen die da oben sich eines Besseren” oder ähnlich. Eine Gegen-Haltung zu der “Warten…”-Position besteht darin, eine eigene Verantwortung wahrzunehmen, jeden nur denkbaren Spielraum des Möglichen im Sinne der Entwicklung der Lernenden wahrzunehmen und sich der Forderung Nina Verheyens anzuschließen:

“Objektivität ist in diesem Bereich [Leistungsbewertung in der Schule] nun einmal eine Chimäre. Daraus folgt eine moralische Verantwortung und eine wichtige Aufgabe, die im Alltag oft übersehen wird und die sich bewusster nutzen ließe. Mischen wir uns in das Spiel der Leistungszuordnung im Namen der Gerechtigkeit ein.“ Nina Verheyen (2018): Die Erfindung der Leistung, Pos. 1112, gefunden von Oliver Schmidt

--

--

Björn Nölte ☕

Teaching & Learning in Berlin, Germany — Referent Schulaufsicht der Ev. Schulstiftung in der EKBO | früher: Lehrer, Seminarleiter, Oberstufenkoordinator