Michel Foucaults “Überwachen und Strafen” revisited

Sind unsere Schulen Kerkersysteme?

Björn Nölte ☕
5 min readSep 10, 2019

--

In diesem Text geht es um einen Wiederholungsbesuch bei den Thesen eines provokanten Textes aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. Michel Foucault beschäftigt sich in diesem Buch eigentlich mit der historischen Entwicklung des Strafwesens und dessen Kritik. Aufmerksamkeit hat es aber auch dafür auf sich gezogen, dass es einen Zusammenhang herstellt zwischen der Strafjustiz und der Gesellschaft allgemein und insbesondere zum Schulsystem.

Vom Gefängniswesen und der Justiz aus übertrage sich die “Vollzugstechnik” der Disziplinierung “auf den gesamten Gesellschaftskörper” — so auch explizit auf die “Schule” (S. 386). Nicht nur das Kerkersystem, sondern die gesamte Disziplinargesellschaft unterliege “seinen vielfältigen diffusen oder kompakten Formen, seinen Kontroll- und Zwangsinstitutionen, mit seinen diskreten Überwachungs- und mit seinen nachdrücklichen Zwangsmaßnahmen” (S. 386). Foucaults historische Betrachtung kommt zu dem Schluss, dass es im Strafwesen eine Veränderung gab: Weg von der Schuld und der “Verletzung eines allgemeinen Interesses” hin zu “Abweichung” und “Anomalie”. Diese “Bedeutung geistert durch die Schulen, die Gerichte, die Asyle und die Gefängnisse” (S. 387). Foucault illustrierte seine Thesen mit einigen historischen Abbildungen, die frappierende architektonische Ähnlichkeiten zwischen Gefängnissen, Hospitälern und Schulen aufzeigen. In dem folgenden Beispiel sieht man die starke Ähnlichkeit der königlichen Menagerie mit dem Grundriss eines Gefängnisses. Den zugrunde liegende Ursachen geht Foucault in seinem Buch nach.

Alle Abbildungen aus dem besprochenen Band.

Mir geht es hier um die Mechanismen in Schulen, die möglicherweise bis heute im Kleinen oder Großen noch wirksam sind. Der folgende Stich von 1760 zeigt ein Schul-Kabinett aus Navarre. Hier sollte gelernt werden; und das leitende Prinzip war Isolierung und Kontrolle. Lernende saßen in einem kleinen einzelnen Raum und schrieben Texte in Einzelarbeit. Auf dem breiten Gang konnte patroulliert und der Fortgang der Arbeit kontrolliert werden.

In der Art wird Schule heute nicht mehr realisiert, aber hat sich das Denken über die Rolle von Lehrer und Schüler wirklich vollständig verändert? Auch heute noch ist die Schularchitektur eher vom “preußischen Schulflur” geprägt. Realisierungen wie im folgenden Beispiel sind wohl immer noch die große Ausnahme:

Foucault spricht von der Normalisierungsmacht, die gesellschaftliche Prozesse bestimme:

Empfinden die Richter immer mehr Unbehagen beim Verurteilen um des Verurteilens willen, so hat sich doch andererseits die Tätigkeit des Urteilens in dem Maße vervielfältigt, in welchem sich die Normierungsgewalt gestreut hat. Getragen von der Allgegenwart der Disziplinanlagen und der Kerkerapparate, ist sie zu einer der Hauptfunktionen unserer Gesellschaft geworden. Die Normalitätsrichter sind überall anzutreffen. Wir leben in der Gesellschaft des Richter-Professors, des Richter-Arztes, des Richter-Pädagogen, des Richter-Sozialarbeiters: sie alle arbeiten für das Reich des Normativen; ihm unterwirft ein jeder an dem Platz, an dem er steht, den Körper, die Gesten, die Verhaltensweisen, die Fähigkeiten, die Leistungen. In seinen kompakten und diffusen Formen, mit seinen Eingliederungs-, Verteilungs-, Überwachungs- und Beobachtungssystemen war das Kerkersystem in der modernen Gesellschaft das große Fundament der Normalisierungsmacht. (S. 392f.)

Normalisierung ist das Gegenteil von Individualisierung. Unter den aktuellen Vorzeichen der Digitalisierung kann das alte pädagogische Versprechen der Selbständigkeit so deutlich eingelöst werden wie selten zuvor. Es mit dem Schlagwort individuellen Lernens zu verknüpfen, ist sicherlich nicht die schlechteste Art, der Gefängnis-Schule Foucaults zu entkommen. Besonders anschaulich wird die Parallele von Gefängnis und Schule in der Darstellung des Gefängnis-Hörsaals in Fresnes (o. J.):

Foucault hat für seine zugespitzten Thesen seit den 70er Jahren neben einem großen Interesse auch vielfältige Kritik und Ablehnung erfahren. Meines Erachtens lohnt es sich auch oder gerade heute, seine Annahmen aktuell zu überprüfen. Lassen sich heute noch Belege für Foucault finden?

In folgenden Aspekten würden “Fabriken, […] Kasernen, […] Spitäler” und eben auch Schulen den Gefängnissen gleichen (S. 293):

  • Parzellierung
  • Zeitrhythmus
  • Zwangsarbeit
  • Überwachung und Registrierung

Schlagworte, die auch heute noch in großem Maße den schulischen Alltag bestimmen.

Die Art und Weise der disziplinierenden Mittel beschreibt Foucault wie folgt:

Es handelt sich immer um minutiöse, oft um unscheinbare Techniken, die aber ihre Bedeutung haben. Denn sie definieren eine bestimmte politische und detaillierte Besetzung des Körpers, eine neue “Mikrophysik” der Macht […] Kleine Hinterlistigkeiten von großer Verbreitungsmacht; subtile Maßnahmen von scheinbarer Unschuld, aber tiefem Mißtrauen (S. 180, Rechtschreibung folgt dem Original)

Wie stark sind Misstrauen und Vertrauen in unserer heutigen Schulkultur tatsächlich verankert? Was überwiegt z. B. bei der Konzeption und Durchführung von Prüfungen? Wie hoch ist der Anteil unserer Energie, die wir dabei auf die Kontrolle verwenden im Verhältnis zu der Energie, die wir vertrauensvoll einsetzen, um dem Prüfling Leistungsentfaltung zu ermöglichen? Den Gang vom Aufenthaltsraum zum Vorbereitungssaum und zum Prüfungsraum, abgeholt und geführt vom Prüfer oder gar dem Prüfungsvorsitzenden, empfinden viele angehende Abiturienten als Gefängnis-artig. Überwiegt der ironische Umgang damit (den manche Lehrer pflegen) oder handelt es sich um eine „unscheinbare Technik“ mit „Bedeutung“?

Bisweilen erfordert die Disziplin die Klausur, die bauliche Abschließung eines Ortes von allen anderen Orten. Die Stätte der Disziplinar-Monotonie wird behütet. Es gab die große “Einschließung” der Landstreicher und der Elenden; und es gab andere Einschließungen, die diskreter waren, aber vielleicht hinterhältiger und wirksamer. Kollegs: das Modell des Klosters setzt sich allmählich durch; das Internat erscheint, wenn nicht als die häufigste, so doch als vollkommenste Erziehungsform. (S. 181)

Das höchste Ziel des deutschen Abiturienten ist eine schriftliche Klausur in „Abschließung“ – deren Form ist nach wie vor die folgende:

Und diese Ziellinie am Ende des Bildungsganges wirkt sich massiv auf das vorausgehende Lernen aus. Man kann darüber streiten: Ich plädiere nicht für die Abschaffung von Abschlussprüfungen, aber für ihre Modifikation.

„Kleine Hinterlistigkeiten von großer Verbreitungsmacht; subtile Maßnahmen von scheinbarer Unschuld, aber tiefem Mißtrauen“: Gibt es sie vielleicht sogar unterhalb einer Bewusstseinsgrenze des Alltags? Die Fragen von Anwesenheit, Pünktlichkeit und angepasstem Verhalten — wie stark prägen sie im Kreis der Lehrer und im Kreis der Schüler Denken und Haltung? Bei diesen Fragen geht es nie um ein Entweder-Oder, sondern immer um die Verhältnismäßigkeit. Wenn es ums Lernen im digitalen Zeitalter geht, wird gerne die Nähe zur Reformpädagogik hergestellt. Wenn es um die aktuelle Diagnose geht, kann auch ein 44 Jahre alter Blick zurück auf Foucault nicht schaden…

[Alle Abbildungen aus dem besprochenen Band.]

--

--

Björn Nölte ☕

Teaching & Learning in Berlin, Germany — Referent Schulaufsicht der Ev. Schulstiftung in der EKBO | früher: Lehrer, Seminarleiter, Oberstufenkoordinator