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Master or Die: Erläuterungen

formative assessment in der Praxis

Björn Nölte ☕
6 min readNov 20, 2021

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Master or Die ist ein Lern-Format, das sowohl für die Schule als auch für die Universität geeignet ist. In angepasster Komplexität ist es in allen Jahrgangsstufen einsetzbar. Im Laufe der Zeit ergaben sich immer wieder einzelne Rückfragen. Hier sollen sie nun in gesammelter Form beantwortet werden.

“Was ist Master or Die in 4–5 Sätzen?”

Das Verfahren setzt eine komplexe Aufgabe bzw. Kompetenz voraus, die grundlegend für das Fach ist, z. B. eine Quellenanalyse in Geschichte oder die Interpretation eines Romanauszuges in Deutsch. Jede*r Schüler*in wählt oder erhält zu Beginn der Arbeit eine eigene Quelle. Dann erfolgt eine sehr klare Instruktion dazu, wie eine sehr gute Quellenanalyse aussehen kann. Kein eindeutiges Muster, sondern eher das Angebot verschiedener Aspekte, die in sinnvoller Kombination auf die individuelle Quelle angewendet werden müssen. Damit verbunden sind hohe Leistungserwartungen. Im Gegensatz zu dem Radrennen müssen alle Lernenden zu einem bestimmten Zeitpunkt (lange Bearbeitungszeit) im Ziel sein. Wer möchte, kann früher eintreffen — Bestandteil des ganzen ist ein eigenes Projektmanagement, um dann arbeiten zu können, wann es am besten in den eigenen Wochenrhythmus passt. Die Verabredung lautet: Im Ziel muss jede Schülerin eine sehr gute Quelleninterpretation vorweisen: Note 1. Wenn das nicht gelingt, gibt es die Note 6 (0 Punkte). Auf dem Weg dahin können die Lernenden so sie wollen Feedback von Mitschüler*innen oder der Lehrperson einholen. Ich muss lernen: Wann brauche ich welches Feedback von wem? Da in digitalen Dokumenten gearbeitet wird, können Texte oder Produkte überarbeitet und verändert werden, Feedback-Kreisläufe können mit Audio- und Videofeedback realisiert werden. Das Verfahren läuft parallel zum sonstigen Unterricht, teilweise in Absprache im Unterricht. Sonstige Hausaufgaben gibt es nicht. Wenn die jeweilige Quelle zum Unterrichtsverlauf passt, wird sie für alle thematisiert.

Einen kurzen Erklärfilm gibt es auch:

“Was ist Master or Die 2.0?”

Auf einem Kongress an der Uni Potsdam, bei dem ich Master or Die vorstellte, schlug ein Teilnehmer vor, dass es neben den Möglichkeiten “1 oder 6” auch alle anderen Noten geben kann. Im Vorfeld sollten Lehrkraft und Schülerin die angepeilte Note verabreden. Diese Variante habe ich als 2.0 hier genauer beschrieben:

“Warum muss das so martialisch heißen?”

Der Name entstand im Gespräch mit meinen Schüler*innen. Natürlich soll niemand “sterben”. Von vornherein habe ich deutlich gemacht, dass jede*r Schüler*in das Ziel “sehr gut” erreichen soll. Der Name hat für mich auch eine Verbindung zu unserem Teamgeist, der Atmosphäre und der Augenhöhe zu den Lernenden. Deshalb habe ich trotz kritischer Einwände an dem Namen festgehalten.

“Kann ich da mal eine konkrete Aufgabenstellung haben?”

Nein! Das Wesen von Master or Die ist gerade, dass es keine differenzierte Aufgabenstellung gibt. Was ich den Lernenden in großer Detailliertheit gegeben haben, sind Hinweise auf die Aspekte, die in einer Quellenanalyse oder Interpretation eine Rolle spielen KÖNNEN. Welche Aspekte herangezogen werden, in welcher Weise und mit welchen Belegen, bleibt die Aufgabe des Lernenden in Abhängigkeit von dem jeweiligen Text oder Material. Ich habe auch vermieden, den Schüler*innen ganze “Musterlösungen” vorab zu zeigen, um die eigene Freiheit nicht einzuschränken. Ich wollte keinen Nachvollzug vermeintlich perfekter Interpretationen, sondern neue, eigene Lösungen. Dazu war es wichtig, am Beispiel zu zeigen, wie etwa der Aspekt des (vermeintlichen und eigentlichen) Adressaten funktional behandelt werden kann oder die Frage der Öffentlichkeit — hier z. B. in Verbindung mit der Frage der sprachlichen Realisation. All diese konkreten Hinweise müssen die Lernenden dann neu und komplex auf ihre Quelle anwenden. Wenn das Thema des größten Teils des Halbjahres in Deutsch z. B. Literatur des Realismus heißt, dann lautet die Aufgabe z. B.: “Analysiere und interpretiere eine Textstelle von 2–3 Seiten aus dem Roman Irrungen, Wirrungen von Theodor Fontane”. Es geht also eher um komplexe Kompetenzen als um detaillierte Aufgabenstellungen.

“Wie motiviert man dabei alle Schüler*innen?”

Nach meiner Erfahrung ist der Rollenwechsel der Lehrperson motivierend: Nicht der Kontrolleur und Aburteiler, sondern der Unterstützer im Prozess zu sein, führt ja dazu, dass Autonomie und Kompetenzerleben der Lernenden steigt. Trotzdem tun sich viele Lernende schwer damit, im Dokument zu beginnen. Hilfreich ist bestärkendes Feedback zu den ersten Zeilen oder konkrete Hinweise, womit man beginnen könnte. Diese Form der Zusammenarbeit stärkt die pädagogische Beziehungsqualität. Außerdem wirkt sich der Faktor der sozialen Eingebundenheit positiv auf die Motivationslage aus:

Bei Master or Die ist es wichtig, dass das ganze Vorhaben als Kurs- oder Klassenvorhaben deklariert wird: Jede*r soll das Ziel einer sehr guten Leistung erreichen. Im Prozess können und sollen sich die Lernenden gegenseitig Feedback geben, was digital leicht umsetzbar ist und durch eigene Freigaben einen Beitrag zur Entwicklung digitaler Mündigkeit leisten kann.

“Wie sieht es denn mit Schummeln aus?”

Kollaboration ist ausdrücklich erwünscht, Schummeln als Idee ist weniger vorgesehen und möglich. In Geschichte habe ich vorbereitend passende Quellen ausgewählt, zu denen keine fertigen Analysen leicht ergoogelbar sind. In Deutsch mussten die Textstellen aus Fontanes Irrungen, Wirrungen vorab mit mir abgesprochen werden. Auf die kollaborativen Dokumente, in denen geschrieben wird, habe ich jederzeit Zugriff. Wenn jetzt größere Textteile als ganze Abschnitte eingefügt würden, könnte ich die Schülerin darauf ansprechen, zudem hat man z. B. in Google Docs sehr detaillierte Versionsverläufe. In der Praxis kam das nie vor. Der Ansatz von Master or Die motiviert nicht zum Schummeln, da es keine Gegnerschaft gibt, die es zu überlisten gilt.

“Was passiert, wenn es eine Schülerin nicht schafft?”

In den Jahren meiner praktischen Anwendung kam es zweimal vor, dass ein Lernender das Ziel “sehr gut” nicht erreichte. Das ist also die absolute Ausnahme. In dem einen Fall brach der Schüler seine Schullaufbahn bewusst ab und entschied sich, auch aus dieser Aufgabe schon auszusteigen. In dem anderen Fall kam der Schüler “nur” zu einer guten Leistung — und diese Note hat er dann stillschweigend auch erhalten. Diese Lösung gibt es natürlich immer, auch für mehrere Schüler*innen. “Friss oder stirb erschließt sich mir nicht ansatzweise”, schreibt ein Lehrer bei Twitter. Hier antworte ich: Es ist eben genau nichtFriss oder stirb”, denn die Lehrperson hat die Chance, unmittelbar im Prozess dabei zu sein und die Lernenden gerade nicht mit der Aufgabe und ihrem Schicksal alleine zu lassen. Ich kann viel besser diagnostizieren, sehe frühzeitig Schwierigkeiten oder Untätigkeit und kann entsprechend eingreifen.

“Geht das auch in jüngeren Klassen?”

Es ist ratsam, schon mit jüngeren Jahrgängen damit zu beginnen, um ein Grundverständnis sukzessive aufzubauen, an das man in älteren Jahrgängen anknüpfen kann. Komplexität und Bearbeitungsdauer können bei jüngeren Schüler*innen reduziert werden. Es kann auch überlegt werden, ob es im Gegensatz zur Oberstufe feste Feedback-Zeitpunkte gibt, um mit dem eigenen Projektmanagement nicht zu überfordern.

„Was hat das mit Schule ohne Noten zu tun?“

Master or Die wird auch in unserem Buch beschrieben, obwohl es doch am Ende eine Note gibt!? Warum? Es befindet sich im Kapitel zu den Prüfungsformen, die den Weg ebnen können zu einer Schule ohne Noten. Feedback, Selbstregulation, Verminderung der Fremdbestimmung kennzeichnen eine Lernkultur, die am Ende auch ohne Noten auskommt. Außerdem wird das Notensystem ja schon dadurch desavouiert, dass es nur zwei Noten gibt: 1 oder 6. Im Prinzip ist das pass or fail, ein Vorgehen zur Gestaltung von Übergängen im Bildungssystem, dem wir im Buch große Sympathie entgegenbringen.

“Ist das überhaupt erlaubt?”

Ich habe Master or Die neben anderen Bewertungsformen eingesetzt. Es fanden weitere Bewertungen der unterrichtspraktischen Beiträge statt, es gab die regulären Klausuren, es gab weitere Möglichkeiten der Kompetenzschau in Verbindung mit Noten. In dieser Weise sehe ich gar keinen triftigen Grund, um hier eine fehlende Legitimation zu sehen. Ich kam mit den Lernenden zu dem Schluss, dass es die Klausur im Anschluss an das Verfahren gar nicht mehr gebraucht hätte, so wie es Stefan Quandt mit seiner formativen Probeklausur erlebt hatte:

Der Verzicht auf die Klausur erscheint derzeit noch nicht legitim, konsequent eingesetzte Methoden des formative assessment könnten aber dazu führen, dass zukünftig eher Klausuren Legitimationsprobleme haben als Master or Die.

Einige Beispiele

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Björn Nölte ☕

Teaching & Learning in Berlin, Germany — Referent Schulaufsicht der Ev. Schulstiftung in der EKBO | früher: Lehrer, Seminarleiter, Oberstufenkoordinator