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Leistungsbewertung zu Hause?

Björn Nölte ☕

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Unter dem Eindruck der Corona-Pandemie kam im Bildungsbereich eine Frage auf, die auch unabhängig von Corona sehr spannend ist:

Kann eine schriftliche Leistungsbewertung (Test, Klassenarbeit, Klausur) auch zu Hause erbracht werden? Wenn ja, wie?

Vor dem Hintergrund der herkömmlichen Auffassung von Leistungsbewertung stellt sich schnell die Frage der Gerechtigkeit: Die technische Ausstattung zu Hause ist höchst unterschiedlich; hier gibt es helfende Eltern oder Geschwister, dort nicht; den Betrügereien sind Tür und Tor geöffnet; Max engagiert dann seinen Nachhilfelehrer, der in der Zeit der Klassenarbeit neben ihm sitzt, während Luisa dafür keine Zeit hat, da sie in der Zeit ihrem kleinen Bruder helfen muss.

Auf der anderen Seite kann es unter den Bedingungen der Pandemie-Bekämpfung zwangsläufig dazu kommen, dass auch „ernsthafte“ schriftliche Leistungen zu Hause erbracht werden müssen. Die üblichen Klassenarbeiten einfach zu Hause schreiben zu lassen, scheidet wegen der skizzierten Schwierigkeiten aus. Was also ist zu tun?

Die Strategie technischer Kontrolle scheidet aus meiner Sicht aus. Warum ich nichts auf Kameraüberwachung u. Ä. in den Kinderzimmern gebe, kann ich gerne anderweitig erläutern. Schlaue Köpfe, die über dieses Problem schon nachdachten, kamen recht schnell zu der Erkenntnis, dass es in der Arbeit einen unverwechselbaren individuellen roten Faden geben müsse, etwas, gleichzeitig eine allgemeine Verschlüsselung für alle Lernenden der Gruppe ist und auf der anderen Seite so individuell, dass ausgeschlossen werden kann, dass fremde Hilfe umstandslos einsetzbar ist.

Meine Idee bezieht die Vorarbeit des Schülers, das Lernen vor der Leistungsbewertung mit ein und erzeugt darüber den individuellen roten Faden. Es bleibt dabei trotzdem summative assessment (Leistungsfeststellung am Ende des Lernprozesses) und stellt kein formative assessment (Lernbegleitung durch prozessorientierte Rückmeldungen) dar. Es adaptiert das Konzept des responsive teaching nach Harry Fletcher-Wood (Routledge 2018) bzw. Elemente daraus auf den Bereich der Leistungsbewertung. Fletcher-Wood geht unter anderem von folgenden Prämissen aus:

  1. “what students already know matters.” (S. 6) — So, wie Fletcher-Wood das Lernen unabdingbar an das Vorwissen der Schüler knüpft, wird in meinem Vorschlag die Leistungsbewertung an Vorleistungen gebunden.
  2. Verbindungen herstellen. Fletcher-Wood betont die Bedeutung von “links”, Verbindungen, das Herstellen von Zusammenhängen als generelle Kernkompetenz. Auch das wird in dem vorliegenden Ansatz zentral berücksichtigt.

Wie sieht die Idee aus? Entscheidend ist der Unterricht, der in den Wochen vor der eigentlichen Leistungsbewertung stattfand. In einem textbasierten Fach erhalten die Schüler im Vorfeld beispielsweise die Aufgabe, einen längeren Text individuell zu bearbeiten. So könnten nach einer allgemeinen Einführung beispielsweise Schüler die Aufgabe bekommen, sich innerhalb des Themas einen längeren Text auszusuchen, um ihn intensiver zu erfassen und zu analysieren. Ein Teil der Aufgabe kann darin bestehen, einen sogenannten BookSnap zu verfassen, ambitioniert z. B. in Form eines Video-BookSnaps. Was darunter zu verstehen ist, lässt sich zum Beispiel hier sehen — ich habe zu dem Buch “Das Ende der Illusionen” von Andreas Reckwitz ein Video-BookSnap erstellt:

Es handelt sich um eine subjektive Erfassung des Textes in Form ausgewählter Zitate — ein Exzerpt. In der vorgestellten Form wird es um visuelle Illustrationen ergänzt, die den Sinn haben, den vorgestellten Inhalt durch die Verbindung mit kurzen Film-Sequenzen nachhaltiger behaltbar zu machen. Vgl. zum Prinzip dieses sogenannten dual coding Oliver Cavaglioli: dual coding with teachers.

In der Aufgabe für Schüler sollte das Video durch einen Reflexionstext ergänzt werden: Hier werden:

  • Begründungen für die ausgewählten Zitate gegeben,
  • Akzente und Fokussierungen betont, die aus individueller Perspektive die Bedeutsamkeit des Textes zeigen,
  • Verbindungen zu disziplinären und interdisziplinären Vorkenntnissen des Schülers hergestellt.

Das Video hat auch den Zweck, in der Lerngruppe den anderen Schülern Einblick in das Lernen des Mitschülers zu geben. Der Reflexionstext dient der Lehrkraft darüber hinaus als Basis für die abschließende Leistungsbewertung. Am Tag der Leistungsbewertung (summative assessment) wählt die Lehrkraft nun aus dem langen bearbeiteten Text einen Ausschnitt aus, der vom Schüler bearbeitet werden soll — entsprechend dem jeweils geforderten Kompetenzschwerpunkt je nach Fach (Analyse von Sachtexten, Interpretation, Quellenanalyse, comment etc.). Der Clou: Innerhalb der Aufgabe muss der/die Schüler/in Bezug nehmen auf seine Vorarbeit an dem Text. D. h. wenn beispielsweise in der Klausur ein Quellenausschnitt analysiert werden soll, müssen gleichzeitig Bezüge zur vorher bearbeiteten Gesamtquelle hergestellt werden, und zwar zu den persönlichen Schwerpunkten, die in dem Video und dem Begleittext formuliert wurden. Entscheidend ist natürlich, dass die entsprechenden Bewertungskriterien vor der Bewertung transparent kommuniziert wurden.

Diese schriftliche Leistung ist dann von einer hohen Individualität geprägt, für die es recht schwer ist, sich ad hoc unerlaubte Hilfe zu besorgen. Hilfe zum Gesamtdokument ist eventuelle recherchierbar, aber kaum zu der individuellen Bearbeitung, die zuvor erfolgte. Meines Erachtens sollte es den Schülern freigestellt sein, ob diese Arbeit dann zu Hause oder in der Study Hall der Schule erbracht wird, um eventuelle Ungleichheiten in der häuslichen Situation auszugleichen. Diese Idee ist zunächst ein Prototyp, d. h. ich freue mich über Anregungen und Kritik.

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Björn Nölte ☕
Björn Nölte ☕

Written by Björn Nölte ☕

Teaching & Learning in Berlin, Germany — Referent Schulaufsicht der Ev. Schulstiftung in der EKBO | früher: Lehrer, Seminarleiter, Oberstufenkoordinator

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