Illustration von Oliver Caviglioli aus “Eine Schule ohne Noten”, hep Verlag 2021 [Ausschnitt]

Leistung sehen

stärkenorientiert, kollaborativ, individualisiert — eine kurze Skizze

Björn Nölte ☕
5 min readJan 9, 2022

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Wie wird das sichtbar, was Schüler*innen in der Schule lernen? Wie können wir ihre Leistungen angemessen sehen? Angemessen bedeutet: Wir sollten Leistungen individuell wahrnehmen, wir sollten sie stärkenorientiert und nicht defizitorientiert wahrnehmen und wir sollten Leistung kollaborativ denken. Das ist ein sehr hoher Anspruch — gibt es dafür realistische Antworten?

Von Felix Winter stammt ein methodischer Vorschlag zu einem anderen Umgang mit Leistung, der genauso bemerkenswert wie transferierbar auf verschiedene Fächer, Altersstufen, Gelegenheiten des institutionalisierten Lernens ist. Winter illustriert diese stärkenorientierte Herangehensweise sehr überzeugend am Deutschunterricht einer Grundschulklasse. Es geht um Gedichte. Eine übliche Vorgehensweise wäre diese: Es gibt eine Einführung der Lehrkraft dazu, wie Gedichte analysiert werden können, möglicherweise mit einem Beispiel, an dem die Anwendung gezeigt wird. Anschließend üben die Schüler*innen die Untersuchung von Gedichten an einem neuen Beispiel. Es gibt eine Art Erwartungshorizont, an dem die Lehrkraft die Differenz von Erwartung und individuell Erreichtem feststellt. Nur selten wird diese Differenz 0 sein. Nur im Ausnahmefall wird die Lehrkraft etwas registrieren und thematisieren, das jenseits des Erwartungsbildes liegt. Die Lehrkraft hat einen recht hohen Aufwand darin, jeden abgegebenen Text der Gruppe zu “korrigieren”, d. h. durchzulesen und vollständig mit dem eigenen Erwartungsbild zu vergleichen, vermutlich mitsamt der sprachlichen Realisation.

Winters Vorschlag, den er wissenschaftlich begleitete, sieht nun so aus: Der Arbeitsauftrag an die Schüler*innen lautet nicht: “Analysiere das Gedicht!” (nach den Vorgaben, die ich euch zuvor beigebracht habe), sondern: “Welche Gedanken und Gefühle hast du beim Lesen dieses Gedichts?” Diese Offenheit führt dazu, dass sehr unterschiedlich geartete schriftliche Antworten der Schüler*innen entstehen. Für die Lehrperson besteht die Aufgabe bei Winter jedoch nicht mehr darin, jeden Schülertext minutiös mit dem eigenen Erwartungsbild zu vergleichen, sondern “Schätze zu suchen”. D. h. auf die Suche zu gehen nach etwas Bemerkenswertem in jedem Text. Möglicherweise ist das bei dem einen die Gründlichkeit, mit der das Gedicht betrachtet wurde, bei der anderen die Präzision, mit der die eigenen Gefühle ausgedrückt werden können, im dritten Text vielleicht die besonders originelle Deutung einer Textstelle. Diese “Schätze” werden mit dem Ziel gesucht, sie der ganzen Lerngruppe vorzustellen, um daran mit allen weiterzulernen in Richtung des Gedichts. In diesem Schritt kommt das Erwartungsbild der Lehrkraft ins Spiel, um das weitere Unterrichtsgeschehen zu lenken. Der Aufwand des “Schätzesuchens” ist für die Lehrkraft geringer als die Korrektur aller Schülertexte nach der herkömmlichen Verfahrensweise. Hier wird also Zeit gewonnen, die kollaborativ wieder eingesetzt werden kann. Denn Winter schlägt vor, dass diese Methode nicht auf eine Lerngruppe beschränkt bleibt, sondern zwei Lehrpersonen gemeinsam in ihren beiden Gruppen nach Schätzen suchen. Jede Lehrperson scannt also die Texte beider Schülergruppen. Denn vier Augen sehen mehr als zwei, möglicherweise gibt es auch unterschiedliche Sichtweisen auf einen Schülertext, was produktiv genutzt werden kann. Unterm Strich bleibt der Arbeitsaufwand der gleiche wie bei der herkömmlichen Herangehensweise, nur habe ich als Lehrperson en passant eine kollaborative Verständigung über einen fachlichen Inhalt geleistet und die Diagnose kollaborativ geübt. Individuelle “Schätze” stellen Lerngelegenheiten für die Mitschüler*innen dar, sodass sich die Notwendigkeit inhaltlicher Darbietungen der Lehrperson verringert. Vielmehr formuliert sie— ebenso wie die Mitschüler*innen — individuelles Feedback und Feed-Forward. Hier ist ihre Expertise gefragt, insbesondere im gezielten Feed-Forward. Das ist etwas anderes als pauschales Lob, das die Lernenden auf eine falsche Fährte führen kann. Und es führt außerdem dazu, dass die Lernende ihre Leistung selbst immer besser sehen kann. Denn das Feedback hat als höchste Aufgabe, sich selbst überflüssig zu machen — das haben Feedback und Lehrperson gemein.

So ähnlich wie Winter geht die Lehrkraft vor, von der Katie Martin in ihrem Buch Evolving Education berichtet. Der Sohn der Autorin berichtet, was dazu führte, dass er wieder motiviert am Mathematik-Unterricht teilnahm:

„Miss Hassey gave us a really hard math problem and we all used our own strategies to figure it out. She picked mine to share with the class!“ It was a simple and powerful strategy that began to shift his mindset. This validation and encouragement that he had value and could solve problems in ways that made sense to him instead of just completing a worksheet was one of many breakthroughs he experienced as a result of a caring educator who intentionally created a learner-centered environment. (Katie Martin, S. 12)

Photo by Kenny Filiaert on Unsplash

Mich erinnert Winters Beispiel an Theaterbesuche, die ich mit Klassen oder Kursen durchgeführt habe. In der Pause oder — mehr noch — nach der Vorstellung kam es zum Gespräch mit den Schüler*innen. Nicht immer mit allen, aber doch mit den meisten. Das wurde erwartet; und ich hatte das auch immer irgendwie erwartet, ohne dass wir das explizit verabredet hatten. Nun stand man vor dem Theater zusammen und oft fingen die ersten Schüler*innen gleich an, ihre Eindrücke zu schildern. Wenn dies tatsächlich mal nicht der Fall war, fragte ich: “Was habt ihr für Eindrücke?” Schön war dann, dass die Schüler*innen auf sehr verschiedenen Ebenen sprachen: Der eine ging auf die Darstellung von Figuren ein, oftmals war bei textsicheren Schüler*innen ein großes Thema, welche Passagen gestrichen wurden und wie berechtigt das jeweils ist. Manch einer hatte Bühne, Kostüme oder bestimmte Szenen als Anlass, die wir im Unterricht intensiv besprochen hatten. Diese informelle Situation habe ich immer sehr genossen. Aus allen Blickwinkeln konnte etwas Anregendes gewonnen werden, teilweise konnte man die Aussagen zueinander in Beziehung setzen. Aber Theaterbesuche hatten keinen Erwartungshorizont als Drehbuch, sondern boten die Freiheit, auf der Basis unterschiedlicher Vorkenntnisse und Perspektiven ganz unterschiedliche Konsequenzen aus dem Erlebten zu ziehen. Für manch eine Schülerin war auch das “Drumherum” (andere Besucher oder Schulklassen, das Theater) interessanter als die Inszenierung selbst. Ich hatte immer das Gefühl, dass diese Mischung aus individuellen Eindrücken und gemeinsamem Gespräch gute Lernmöglichkeiten bzw. Interesse förderten. Der Geist dieses “außerschulischen” Ansatzes lässt sich mit Winters Methode auch ins Klassenzimmer holen.

WHAT ARE OUR ASPIRATIONS FOR LEARNERS? I share an overview of what it means to start with a holistic understanding of each learner as an individual rather than emphasizing averages and standardization. We’ll look at what it means to get to know each learner and treat each one as if they are capable of learning and contributing in their own, meaningful way. And we’ll explore what it might look like to redefine success and expand measure beyond GPAs, standardized tests, and traditional methods of assessment. (Katie Martin, S. 5)

Wenn wir hier mitgehen und lernerzentriert mit einem holistischen Blick auf lernende Persönlichkeiten blicken, und damit Lernerfolg auch neu und individuell definieren, womit ersetzen wir dann herkömmliche Instrumente und Vorgehensweisen der Leistungserfassung? Ersetzen werden wir sie vielleicht nicht über Nacht können, aber wir können ihre Bedeutung minimieren und die Bedeutung anderer Mittel erhöhen — z. B. derjenigen, die individuelle Entwicklungen sichtbar machen. Dazu ein einfaches Beispiel: Im Sprach- oder Fremdsprachenunterricht erhalten die Lernenden die Aufgaben, alle 2 Wochen oder alle 4 Wochen eine eigene kurze Audioaufnahme zu erstellen, bei der sie selbst sprechen oder vorlesen. Zu diesen Aufnahmen kann die Lehrperson Feed-forward geben, an vorgegebene Standards erinnern. Vor allem kann aber rückblickend individuell der Fortschritt sichtbar gemacht werden: gegenüber den Lernenden selbst, aber auch gegenüber den Eltern. Eine Bewertung an den normierten Standards kann am Ende dennoch erfolgen, allerdings hat man (mit den Worten Martins) evidence of mastery AND growth.

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Björn Nölte ☕

Teaching & Learning in Berlin, Germany — Referent Schulaufsicht der Ev. Schulstiftung in der EKBO | früher: Lehrer, Seminarleiter, Oberstufenkoordinator