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Lehren aus der Zeit der Corona-Krise

Eine pädagogische Sammlung

Björn Nölte ☕
7 min readApr 16, 2020

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Die Gedankenfigur “Krise als Chance” ist alt und oft überstrapaziert. Diejenigen, die Chancen suchen, betreiben das jedoch in Krisenzeiten umso intensiver; und so hat die Formulierung derzeit Hochkonjunktur. Der Bildungsbereich steht im Scheinwerferlicht wie selten zuvor. Schulschließungen und Homeschooling haben dazu geführt, dass breite Teile der Öffentlichkeit über Bildung und Versäumnisse in diesem Bereich diskutieren. Wie ist die Lage?

Durch die verhinderte räumliche Nähe von Lehrkräften und Schülern steht die Frage im Raum, ob und wie Digitalität diese Lücke zu schließen vermag. Dabei ist das Digitale längst da, wir leben schon lange in einer digitalen Gesellschaft. Das wird dem einen oder anderen nun schlagartig klar. Im Sinne von Andreas Reckwitz (Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. München: Suhrkamp 2019) könnte man die derzeitige Situation der deutschen Bildungslandschaft als Emblem der Spätmoderne begreifen. Die digitale Disruption führt nicht zu einer linearen Progression, sondern zu Verwerfungen, die aufgrund der Vielzahl der Perspektiven, Entscheidungsebenen und Sinngebungen der Akteure zu Widersprüchen, Konflikten, Asymmetrien, Disparitäten und Polarisierungen führt (vgl. Reckwitz, S. 18f). Zeigefingerhebende Datenschützer vs. pragmatische Macher, digitale Kontrolleure vs. digitale Ermöglicher, Vereinheitlichung vs. Vielfalt, Teilhabe durch Digitalisierung vs. soziale Schere durch Digitalisierung, Kulturverfall vs. kulturelle Bildung, privat vs. staatlich, Prüfungstradition vs. Prüfungsinnovation: damit sind einige der disparaten Konfliktsichten in diesem Bereich angedeutet. Eine lineare Entwicklung ist nicht erkennbar, eher ein vielfältiges Hin und Her.

Wie unter einem Brennglas sieht man derzeit unter den Bedingungen der Krise, an welchen Stellen es im Bildungssystem “knirscht” und wo Lösungswege dringend erwünscht sind. Dass die Corona-Krise die neuralgischen Punkte beleuchtet, hat jüngst auf Twitter zu einer umfangreichen Diskussion geführt:

Mehrfach wurde die Corona-Krise wie gesagt als große Chance für das Bildungswesen beschrieben. Hartmut Rosa hat es in der Süddeutschen Zeitung so ausgedrückt, dass in der Corona-Zeit die Hoffnung besteht, dass wir eine Relevanzverschiebung erleben. Er bezog sich auf gesellschaftliche und persönliche Ebenen, viele beziehen diese Sichtweise auf den pädagogischen Bereich. Auf der anderen Seite herrscht Skepsis gegenüber dem Chancen-Begriff oder der Rede davon:

Georg Diez formulierte in der ZEIT (“Das Neue ist längst da”) den Imperativ des Umdenkens, an den er die Forderung des bedingungslosen Grundeinkommens anschloss, ich dachte bei den folgenden Sätzen sofort ans Bildungssystem:

Es muss also ein systemisches Umdenken geben. Die Krise zeigt, dass die Veränderung notwendig ist, da die Verlängerung des Bestehenden in die Zukunft vor allem destruktiv erscheint. Die Krise zeigt auch, dass Veränderungen möglich sind, die bislang immer als illusorisch abgewehrt wurden.

Ich möchte diesen Diskurs mit punktuellen persönlichen Beobachtungen ergänzen, an denen ich eine erwünschte Normalität ablesen möchte, die im besten Fall nach der Corona-Krise erhalten bleibt und Fingerzeige gibt in Richtung eines generellen systemischen Umdenkens. In diesem kurzen Artikel können das nur Andeutungen sein.

Neue Normalitäten

An zwei kleinen Beispielen sei die “neue Normalität” angedeutet, die ich bei meinen Schülern wahrnehme. Beispiel 1: Auch schon vor der Corona-Zeit wurden natürlich Videos durch die Schüler hergestellt und auch auf unsere Lernplattform gestellt. Kürzlich wurde in einer Videokonferenz mit der Klasse deutlich, dass einige nicht wissen, wie das geht: Die neue Normalität: Eine Schülerin fragte beiläufig in dem Chat, ob ich das nicht in einem kurzen Screencast (Erklärfilm in Form eines abgefilmten Bildschirms) erklären könnte. Das hat vielfältige Vorteile: Wiederholbarkeit, jeder nutzt es, wenn er es wirklich braucht etc. Erstaunt hat mich die Normalität dieser Frage, das Vorgehen etabliert sich hoffentlich auch nach der Corona-Zeit. Der Screencast war übrigens in ein paar Minuten erstellt und im Stream der Lernplattform gepostet. Zweites Beispiel: Asynchrones Lernen. Im dichtgepackten Zeitplan der ersten Corona-Woche konnte ich an einer Stelle einen Video-Chat-Termin mit einer Lerngruppe nicht einhalten — der Termin wurde kurzerhand um 1 Stunde verschoben. Diese Verschiebung war für alle Beteiligten überhaupt kein Problem — man stelle sich das einmal im regulären Schulbetrieb vor. Die Freiheit, dass wir untereinander die Termine der Videokonferenzen frei verabreden konnten, schätzten viele Schüler. Das war nicht der einzige Punkt, an dem sich die Schüler/innen tatsächlich wünschten, dass man 2 Wochen “Fernlernen” in dieser Form in jedem Schuljahr etablieren sollte — um des Lerngewinns willen (!).

Heterogenität

Die ungemeine Vielfalt an Voraussetzungen und Bedingungen im schulischen Lernen wurde mit der Corona-Krise auf brutale Weise sichtbar. Nicht nur zwischen Bundesländern (its learning an allen Bremer Schulen, mebis in Bayern, nichts in vielen Ländern), auch zwischen Schulen, zwischen Klassen und Kursen einer Schule, natürlich vor allem zwischen einzelnen Schülerinnen und Schülern: Haushalt, Geschwister, Eltern, technische Ausstattung und und und). Im regulären Schulbetrieb kann man sich gemeinhin der Illusion einer Einheitlichkeit hingeben: Alles sitzt in Reih’ und Glied, jeder hat das gleiche Buch auf dem Tisch…Aber hinter der Fassade lauert eine riesige Heterogenität, für die sicherlich keine Patentrezepte bereit liegen, aber in der Krise wurde die pädagogische Grundkonstante vielfach sichtbarer, wodurch vielleicht immerhin das Problembewusstsein geschärft werden kann.

Videochats

Für meinen Seminarkurs in der Oberstufe habe ich mir fest vorgenommen, das Angebot von individuellen Sprechstunden per Videochat beizubehalten. Das Instrument war ja auch zuvor bekannt und verfügbar, es gab aber eine gewisse Scheu davor: Muss das? Darf das? Ist das nicht zu privat? Durch die Erfahrung haben wir alle gemerkt, welche Vorteile das Verfahren mit sich bringt und wie und wo es sinnvoll eingesetzt werden kann. Aus der Not heraus führte ich auch Eltern-Informationsabende per Videochat durch. Mit vorheriger Informationsübermittlung in Erklärvideos. In den Videokonferenzen stellten die Eltern Fragen per Textnachricht, die ich dann im Plenum beantworten konnte. Per geteiltem Bildschirm lassen sich Details z. B. der Kurswahl für alle deutlicher zeigen als per Beamer in der vollen Aula — auch dieses Verfahren könnte nach der Krise Schule machen.

Der Kollegen-Call

Formell und informell fanden und finden in der momentanen Krise Videochats auch innerhalb von Lehrerkollegien statt:

Auch das habe ich mit großem Gewinn erlebt und konnte etwas verzeichnen, was meiner Meinung nach ein Kennzeichen digitaler Kultur ist: den Abbau von Hierarchie. Im Videochat herrscht demokratische Gleichberechtigung. Jeder Kollege, jede Kollegin mit einem Lösungsvorschlag oder einem Beitrag kann sich zu Wort melden. Eine Frage kann genauso wertvoll sein wie eine Antwort. Es entfällt die übergeordnete Position der Moderation — oder deren Notwendigkeit reduziert sich zumindest, so habe ich das erlebt.

Stundenplanwechsel: Jeden Tag ein Fach

Die Aussage aus dem folgenden Tweet kann ich durch meine Schüler sehr klar bestätigen:

Die Mehrheit der Schüler/innen, mit der ich darüber sprach, äußerten sich ähnlich. Einzelne gingen auch den anderen Weg und organisierten sich analog zu ihrem bisherigen Stundenplan. Die Mehrheit — und das sollte uns doch zu denken geben — favorisierte 1 Tag = 1 Fach oder zumindest eine längere Beschäftigung mit einem Fach oder Thema. Ein Schüler berichtete mir, dass er so “endlich Mathe kapiert” habe, weil er sich nun über mehrere Stunden am Stück darauf einlassen konnte. Wie viel Utopie und wie viel Realisierbarkeit steckt in diesem Gedanken?

“Wie kann ich diese vielen Rückmeldungen geben?”

Mit dieser Frage sahen sich einige Lehrkräfte konfrontiert, die jetzt in Corona-Zeiten fleißig digitale Aufgaben erstellten und dann bald erschlagen von den fleißigen Schülerergebnissen allumfassend Feedback geben wollten. Den Anstoß, vermehrt auf das Thema Feedback zu sehen (sehen zu müssen), halte ich für ausgesprochen produktiv. Ist doch Feedback, zielgerichtete Rückmeldung, grundsätzlich ein Lernverstärker ersten Ranges. Und wenn die C-Krise nun dazu beiträgt, Schritte auf dem Weg zu einer verstärkten Feedbackkultur zu gehen, ist viel gewonnen. Dass man nicht jede Schülerarbeit wie eine Klassenarbeit “korrigieren” muss, sondern den Bereich den Feedbacks auswählen kann, z. B. in der Methode der Yellow Box, oder gar mit den Schülern einübt, dass sie Feedback zu bestimmten Punkten einfordern — das sind Aspekte der Lernorganisation, die für den Alltag nach der Krise ausgesprochen produktiv wirken können.

Bedeutungsverlust der klassischen Leistungsbewertung

Tradierte Formen der Leistungsbewertung kommen in der C-Krise auf den Prüfstand. Teilweise herrscht der Eindruck, dass politische Entscheidungen unter dem Druck der zu erfüllenden Prüfungen getroffen werden: Schnell war klar, dass Abschlussprüfungen stattfinden sollen. Die Klassenstufen, die auf Abschlussprüfungen zusteuern, sind die ersten, die wieder “beschult” werden. Aber kommt es wirklich in erster Linie auf die ordnungsgemäß durch geführten Prüfungen an? Oder kann demgegenüber das Entfachen von Lernmotivation, das selbstgesteuerte Lernen, Anteile von Reflexivität und Eigenverantwortung gesteigert werden? Kann die derzeitige Situation vielleicht sogar als Ansatz verstanden werden, Prüfungsformate zu überdenken und zu innovieren? Ansätze wie das sogenannte formative assessment, die rückmeldende Lernbegleitung statt der Aburteilung am Ende, gewinnen während der Krise an Aufmerksamkeit. Ebenso werden in der Krise neue Chancen für eine Individualisierung des Lernens sichtbar und ergriffen, auch dieses Erbe der Krise lässt sich hoffentlich in die Zeit danach herüberretten.

Bildungsföderalismus

Die Corona-Zeit hat auch das alte deutsche Problemfeld des Bildungsföderalismus wieder unter das Brennglas der Öffentlichkeit gelegt. Zur Veranschaulichung soll das Beispiel vom Umgang mit Microsoft Teams / O365 dienen. Hier kommen hintereinander die Varianten aus München und aus Cloppenburg in Niedersachsen, beide Tweets stammen vom 06.04.20:

Das Dilemma ist offenkundig: Es mangelt an Einheitlichkeit und Verlässlichkeit, für die Lehrkraft hängen die Einsatzmöglichkeiten von der zufälligen Lokalisierung des Arbeitsplatzes ab — und das frustriert natürlich.

Rückbesinnung auf die pädagogische Beziehungsqualität

Bei aller digitalen Hektik war oftmals zumindest auf den zweiten Blick zu lesen, dass Wesentliches jetzt sichtbar werde: Es komme zunächst mal darauf an, die Schüler zu erreichen und nicht darauf, übervolle Lehrpläne mit übervollen digitalen Aufgaben abzuarbeiten. Video-Chats sollten zunächst dem sozialen Miteinander und dem “In-Kontakt-Bleiben” dienen und erst in zweiter oder keiner Instanz der Vermittlung von Kenntnissen. Die pädagogische Beziehung erfährt hier zurecht eine besondere Aufmerksamkeit, auch im Bereich der Digitalität.

Wohin?

Abschließen möchte ich meine willkürliche Sammlung mit einem Blick nach Australien. Das, was Jamie Clark als “growth zone” während der Zeit des #remotelearning empfiehlt, eignet sich ebenso gut als Haltung für danach:

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Björn Nölte ☕

Teaching & Learning in Berlin, Germany — Referent Schulaufsicht der Ev. Schulstiftung in der EKBO | früher: Lehrer, Seminarleiter, Oberstufenkoordinator