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Gebt den Schüler/innen Eigenverantwortung!

Ein Appell in Corona-Zeiten

Björn Nölte ☕
2 min readApr 22, 2020

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Ich war unsicher. Aber ein Gespräch mit meinen Schülern hat mir Sicherheit gegeben. Ich war unsicher, ob ich meinem Kurs zu viel Freiheit und Eigenverantwortung gebe. In einem Oberstufenkurs stand ich vor der Frage, wie ich den Heim-Unterricht in den 2 Wochen bis zur vermutlichen Rückkehr ins Schulgebäude am 04.05.2020 gestalte. Ich entschied mich dafür, die Schüler vor allem an einer komplexen Aufgabe (Analyse einer Dramenszene) intensiv arbeiten zu lassen und zusätzlich Möglichkeiten zur Vertiefung anzubieten, aber nicht verpflichtend anzuweisen. Mir fiel nämlich auf, dass die Schülerinnen und Schüler in der Corona-Zeit sehr unterschiedlich intensiv gearbeitet hatten. Ich schrieb dem Kurs in einem Text, dass ich dazu folgendes denke: “Die Bedingungen zu Hause sind bei euch sehr unterschiedlich: Geschwister, eigene Zimmer, Computer, Internet, Stresslevel in der Familie, Hilfe und Unterstützung, Risikogruppen, Faulheit.” Unmöglich, das bei jedem Einzelnen zu überprüfen. Also entschied ich mich dazu, die Verantwortung in die Hände der Schüler/innen zu legen. Ich machte ihnen klar, dass sie vor allem ihre eigenen Lücken in unserem Thema zu schließen hätten und anschließend vor allem die “große” Aufgabe der Dramenanalyse zu bewältigen hätten (woran schon seit geraumer Zeit gearbeitet wird). Das Gute: Ich kann den Schülern im Prozess des Schreibens Rückmeldungen geben und die Schüler/innen können ihren Text sukzessive immer weiter verbessern (formative assessment) — wenn sie denn an ihren Texten arbeiten. Mein Angebot: Wenn dann noch Zeit und Energie vorhanden wären, könne man sich bei den 6 Vertiefungsaufgaben bedienen, darunter Textaufgaben, aber auch kreative, wie z. B. ein “text snap”-Video mit lumen5.com zu erstellen. Videokonferenzen beraumen wir in der Corona-Zeit nicht zu jedem regulären Kurstermin an, sondern nur 1x pro Woche (asynchrones Vorgehen); eher um Allgemeines zu besprechen, das Soziale zu bewahren und Fragen zu klären, teilweise per “Bildschirm teilen” auch, um inhaltlich auszuwerten. Heute dann doch meine Zweifel: Gebe ich den Schülern zu viel Freiheiten, brauchen sie doch eher Termine, synchrones Vorgehen, etwas mehr Druck? Wie so oft bei Unsicherheiten besprach ich das direkt mit meinen Schülern. Nicht alle Schüler waren heute in der Videokonferenz, aber wiederum gab es für Abwesenheiten verschiedene Gründe. Und siehe da: Sie überzeugten mich sehr klar davon, dass unser Vorgehen richtig ist. “Wir sind alt genug”, hieß es, “niemand kann Ihnen vorwerfen, dass Sie nicht genug anbieten”, und: “Wer das nicht annimmt, ist selbst schuld.” Am wichtigsten: “Wer jetzt unverschuldet mehr Stress hat als andere, braucht sich nicht schlecht fühlen mit dem Mindestprogramm.” Das hat mich so überzeugt, dass ich folgenden Appell — gerade jetzt — loswerden möchte: Gebt den Schülern mehr Eigenverantwortung, bzw. so viel, dass sie damit umgehen können, und überlastet sie nicht mit Aufgaben, um dem heimlichen Antreiber der Lehrplanerfüllung oder des falschen Pflichtbewusstseins zu genügen. Und besprecht das am besten auf Augenhöhe mit ihnen!

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Björn Nölte ☕

Teaching & Learning in Berlin, Germany — Referent Schulaufsicht der Ev. Schulstiftung in der EKBO | früher: Lehrer, Seminarleiter, Oberstufenkoordinator