Fingierte Zeitzeugen

Eine Unterrichtsidee begleitet mich seit 15 Jahren…

Björn Nölte ☕
7 min readApr 10, 2018

…und verändert sich dabei; sie wird dabei zu einem Signum auch des veränderten Lernens in unserer digitalen Gesellschaft. Aber eins nach dem anderen.

Im Jahr 2003 erschien in der Zeitschrift Geschichte lernen ein Artikel von Thomas Lange (Auflage heute vergriffen, ohne Neuauflage). Ich habe Herrn Lange nie ausfindig machen können (🕵️‍♂️Hinweise sind willkommen, da ich ihm gerne meinen Dank aussprechen würde).

Quelle

Die Schüler schlüpfen nach diesem Vorschlag in die Rolle einer fiktiven historischen Person. Dazu gibt es 24 Vorschläge für Rollenbiografien, die ergänzt oder verändert werden. Die Figuren reichen von der Tochter eines jüdischen Fabrikanten über einen Bauernsohn vom Lande bis zum adligen Sproß eines höheren Militärs. Nun haben die Schüler die Aufgabe, über einen längeren Zeitraum — bei mir ist es meist ein Jahr — ein Tagebuch ihrer Person zu verfassen. Der thematische Zeitrahmen begann aktuell in meinem Kurs 1904 (Hererokrieg, die Beteiligten wurden ca. 1895–1902 geboren) und geht wahrscheinlich bis in die Zeit der deutschen Teilung. Die Struktur der Methode sieht vor, dass auf der einen Seite “normal” (ich kann es nicht anders ausdrücken) Unterricht stattfindet. Und dann gibt es aber stets Phasen, teilweise ganze Blöcke, in denen die Schüler an ihren Tagebüchern weiterarbeiten, d. h. die Geschehnisse aus ihrer Sicht beleuchten und kommentieren. Multiperspektivität par excellence — eine großartige Methode mit vielen (und der Leser ahnt: unter digitalen Vorzeichen noch weiter wachsenden) Möglichkeiten für motiviertes Lernen. Die Schüler erhalten vorab ausführliche Informationen, auch zur Bewertung. Es gibt eine Reihe vorgegebener historische Ereignisse, die in jedem Tagebuch verarbeitet sein müssen, z. B. die Novemberrevolution. Das ist notwendig, um wirklich eine multiperspektivische Sicht zu erzeugen und diskutieren zu können. Die Bewertung findet aktuell in meinem 12er-Kurs zu zwei Zeitpunkten statt: vor den Osterferien und am Halbjahresende. Die Krieterien der Bewertung verschieben sich hier gegenüber herkömmlichen Bewertungsformen: Es geht auch um charakterliche Plausibilität, um das authentische Erzeugen eines sozialen Profils, um die Klarheit der Perspektive und angemessene Sprachformen. Vieles bleibt den Schülern frei zur eigenen Ausgestaltung: zeitliche Übergänge, Visualiserungen. Die im Brandenburger RLP geforderte übergeordnete Kompetenz der Narrativität als Synthese der vier Kompetenzen Analyse, Deutung, Methode, Urteil & Orientierung wird hier in motivierender Weise umgesetzt.

Da mich diese Methode schon so lange begleitet, stelle ich die Abschnitte meiner Erfahrungen chronologisch dar.

2003/04 setzte ich die Idee in meinem Geschichtsunterricht am Gymnasium um. Schnell merkte ich, wie auch vermeintlich abgeklärte Oberstufenschüler sich gerne in die positive Gruppendynamik einließen und um gelungene Tagebücher wetteiferten. Von Digitalem war man dort noch meilenweit entfernt, allenfalls wurden historische Fotografien ausgedruckt und eingeklebt. Angelegt wurden handschriftlich befüllte Tagebücher in unterschiedlichen Formen. Ein zusätzliches Ziel dieses ersten Durchgangs bestand darin, die Tagebücher am Tag der offenen Tür für interssierte Eltern und Schüler auszulegen und darüber ins Gespräch zu kommen, was auch dann auch mit großem Stolz geschah. Im Unterricht wurde viel Zeit aufgewendet, um auch aus einzelnen Tagbeüchern vorlesen zu lassen. So erhielten die Schüler direkte Reaktionen und Verbesserungsvorschläge. Problem damals: Wie füge ich am elegantesten Verbesserungen oder Ergänzungen ein? Ein fächerübergreifender Aspekt wurde damals realisiert, indem eine Schülerin ihr (sehr umfangreiches) Tagebuch in der Rolle einer asiatischen Einwanderin im damaligen Deutschland schrieb, und zwar auf Englisch. Sie stellte ihr Tagebuch auch in ihrem Englisch-Kurs (thematisch passend vor) und die Englisch-Lehrkraft redigierte beeindruckt vom Engagement der Schülerin.

Später stellte ich die Methode im Fachseminar Geschichte meinen Referendaren vor und viele setzten sie unterschiedlich um, teilweise auch für kürzere historische Zeitrahmen. An dieser Methode lässt sich die Frage, wie man historische Kompetenzen motivierend fördern kann, sehr gut diskutieren. Der didaktische Vorteil liegt darin, das historische Verstehen aus einer persönlichen Perspektive tiefgründiger zu ermöglichen und durch die Langfristigkeit und die Verbindung der einzelnen Etappen auch eine Kohärenz des historischer Entwicklung zu erzeugen.

Ebenso groß wie bei den Referendaren war das Interesse diesem Ansatz gegenüber auch immer bei Fortbildungen, die ich für Lehrkräfte verschiedener Schularten durchführte. Beim Thema Differenzierung haben die fingierten Zeitzeugen ein großes Potential, das an anderer Stelle vor allem fachdidaktisch durchdekliniert werden kann. Die Erfahrungen mit dieser Methode sind überaus positiv, den Schülern entstehen plötzlich Fragen, die sonst nicht formuliert wurden: teilweise bezogen auf Details (“spielte man damals schon Volleyball?”) — die in der Hinsicht wertvoll sind, dass sie eine historische Identifikation ermöglichen; teilweise interessieren und recherchieren die Schüler von sich aus historische Hintergründe, um ihr Tagebuch angemessen gestalten zu können (“war es realistisch, dass sich Kommunisten und Konservative im Kaffeehaus trafen?”, “mit wieviel Jahren ging man zur Reichswehr?”).

Als ich die Methode später im Hauptseminar angehenden Lehrern aller Fächer vorstellte, zeigte sich, dass die Struktur des Ansatzes auch auf andere Fächer und andere Kontexte übertragbar ist — aber die Darstellung dessen würde hier den Rahmen sprengen.

Nun bin ich wieder an der Schule und habe mich natürlich der Methode erinnert, als es an die Vorbereitung der Weimarer Republik etc. ging. Der Ansatz ist nach wie vor der gleiche. Ich benutze auch immer noch die Rollenvorschläge von Herrn Lange aus dem Jahr 2003, aber das Potential und die Realisierung haben sich verändert. Die Schüler können sich jetzt entscheiden, ob sie ihr Tagebuch digital oder analog führen. Auf die Bewertung hat diese Entscheidung keinen Einfluss. In meinem aktuellen Kurs hat sich nur eine Schülerin für die analoge Variante entschieden. Dieses entstehende Tagebuch ist inhaltlich wie gestalterisch von herausragender Qualität.

Die Arbeitsweise der Schüler, die die digitale Variante gewählt haben, hat sich verändert. In der Gestaltung (Schriftart, Layout, Bilder, Videos etc.) haben sich die Möglichkeiten erhöht, außerdem sind Veränderungen leichter möglich. Der Kriegsausbruch 1914 konnte für viele Schüler problemlos nachträglich vor der Russischen Revolution 1917 eingefügt werden.

Beispiel eines digitalen Tegebuchs mit eingefügtem Foto

Neu ist die Vorgabe, dass die Schüler in ihren Rollen Begegnungen untereinander arrangieren müssen. So hört man im Klassenraum Rufe wie “Sag mal, ich bin auf dem Weg an die Front nach Russland, können wir da irgendwie zusammenfahren.” Oder es finden Kaffeehaus-Gespräche in dem einen Tagebuch statt und in einem anderne Tagebuch wird dieses Gespräch aus der Sicht des mithörenden Nebentisches geschildert. Dieser unmittelbare Abgleich der Perspektiven ersetzt das gegenseitige Vorlesen der Tagebücher vor 14 Jahren — nach meiner Beobachtung mit einem Gewinn an Lebendigkeit, Selbständigkeit und mehr Zeit für mich zur individuellen Begleitung. In einem Google Dokument sind außerdem tabellarisch alle Rollen aufgeführt und verlinkt, so dass die Schüler untereinander die Tagebücher einsehen können, wenn sie möchten (und freigeben). Gespannt bin ich auf die weiteren Erlebnisse des Hochzeitspärchens (das Hochzeitsfoto findet sich in beiden Tagebüchern).

Teilweise führt die elektronische Variante zu weiteren interessanten Kreationen. Im nachfolgenden Foto sieht man, dass eine Schülerin z. B. den Text ihrer 7-jährigen Rollenfigur (schwarz) von der 16-jährigen Schwester (blau) korrigieren ließ — eine tolle Idee, um authentische Schreibweisen zu simulieren.

Ausschnitt aus einem digitalen Tagebuch

Durch die Kommentarfunktion der Google Dokumente kann ich effizientere Rückmeldungen geben und die Schüler können einfacher und selbstverständlicher überarbeiten. Ich überlege, ob ein Bewertungskriterium “Umgang mit Rückmeldungen” sinnvoll ist, und man die Schüler verstärkt dazu anhält, sich gegenseitig Rückmeldungen zu geben — das kann aber auch in Erfüllungsmechanismen ausarten.

Im “vordigitalen” Zeitalter waren die Schüler sehr stark an das inhaltliche Material gebunden, das sie von mir bekamen. Dadurch entstand eine größere Ähnlichkeit der Tagebücher, als das heute der Fall ist, wo die Schüler auch im Unterricht selbstverständlich auf eigene Recherchen gehen, wodurch unterschiedliche Geschichten, z. B. längere Reisen nach Russland entstehen.

Außerdem fällt mir auf, dass die herkömmliche Strukturierung des Unterrichts, so wie sie auch im Referendariat sehr verbreitet wird (Einstieg — Erarbeitung — Auswertung — Problematisierung, innerhalb dieses Kurses mehr und mehr schwindet. Ich kann mich an Unterrichtsblöcke erinnern, die ich ganz beseelt als unheimlich fruchtbar empfunden habe, die aber nach einer herkömmlichen Referendariatsbewertung vermutlich nicht den formalen Ansprüchen genügt hätten. Der Unterricht begann nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern die Schüler waren “im Übergang” von “Pause” zu “Unterricht” ins Gespräch über den Fortschritt ihrer Tagebücher vertieft. Daraus entwickelten sich Fragen, die dann auch an mich gerichtet wurden. Aus diesen Fragen entwickelten wir Pläne, was wir jetzt bräuchten — an Input, an Zeit zum Weiterarbeiten etc. Eine größere Frage (“Warum sind die USA eigentlich in den Ersten Weltkrieg eingetreten?”) bildete die Leitfrage für den gesamten nächsten Unterrichtsblock. Diese Sitzung fühlte sich nicht nach Unterricht an: Sozialformen bildeten sich spontan (alleine, zu zweit, Besprechung in einer Kleingruppe) und das Ziel vor Augen (sinnvolle Tagebuch-Einträge, für die man das nötige historische Rüstzeug benötigt) entwickelte sich der Gang von alleine. Im digitalisierten Klassenraum fragen die Schüler auch schon gar nicht mehr “Darf ich das kurz googeln?”, sondern recherchieren alles Googelbare selbständig und flink. Die Wege und Ergebnisse werden viel diverser und die Anweisungen (“Lies doch mal vor!”, “Alle hören jetzt mal zu!” etc.) entfallen, da durch die angelegte Arbeitsstruktur dieser Austausch untereinander passiert. Meine Rolle ist die des anzufragenden Experten, des Bestärkers, Anstoßers, Verbinders — und ich fühle mich darin sehr wohl. Ich habe den Eindruck, dass die Schüler inzwischen ein Gespür dafür entwickelt haben, welche Fragen sie an mich richten und welche selbständig recherchiert werden.

Der Modus der Schüler hat sich geändert. Sie wissen von vornherein, was zu tun ist, dass das recht viel ist — und legen sofort los. Sie sitzen nicht mehr wie das Kaninchen vor der Schlange und warten auf den nächsten Einzelauftrag der Lehrperson. Ein instruierendes Unterrichtssetting, wie z. B. das gemeinsame Ansehen einer kurzen Video-Dokumentation (auch das gibt es noch), wird von ihnen dann auch unter dem Blickwinkel der Verwertbarkeit für das eigene Tagebuch gesehen.

Ich hoffe, ich konnte ein wenig Lust und Neugier auf diese Unterrichtsmethode erzeugen und bin auf Erfahrungsberichte und Kommentare sehr gespannt.

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Björn Nölte ☕

Teaching & Learning in Berlin, Germany — Referent Schulaufsicht der Ev. Schulstiftung in der EKBO | früher: Lehrer, Seminarleiter, Oberstufenkoordinator