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Digitale Schule in Mittelamerika

Wie wird dort mit digitalem Lernen in Corona-Zeiten umgegangen? Kurze Bemerkungen zu einer Gesprächsrunde

Björn Nölte ☕
4 min readDec 4, 2020

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Letzte Woche war ich zu einer Videokonferenz eingeladen. Bildungsexpert*innen aus Mittelamerika: Universitätspräsidenten, Mitarbeiter*innen der Bildungsministerien, Regierungsmitarbeiter*innen, Schulleiter*innen etc. suchten auf dieser Konferenz den internationalen Austausch. In meinen 90 Minuten, aus denen dann 120 Minuten wurden, mit Deutschland. Eine Stiftung hatte das organisiert. Und so konnte ich Vertreter*innen aus Venezuela, El Salvador, Nicaragua, Honduras, Costa Rica, Panama, Guatemala meine deutschen Erfahrungen nahebringen und vor allem auch ihre kennenlernen.

cc-by wikimedia

Natürlich ist mein Eindruck von diesen 2 Stunden subjektiv, gefiltert etc. Genauso wenig, wie ich als Einzelperson über “die Situation in Deutschland” objektiv auskunftsfähig bin, sind es meine Gesprächspartner zu ihren jeweiligen Ländern. Einige Details halte ich für mitteilenswert. Zunächst finde ich es bemerkenswert, mit welcher Offenheit und welchem Interesse man heranging, um zu hören, wie das denn in Corona-Zeiten in Deutschland vonstattenging, wie man die Herausforderungen anging und welchen Schwierigkeiten man begegnete. Deutschland sieht sich ja bei digitaler Bildung international nicht gerade in einer Vorreiterrolle — dennoch interessierte man sich aus Mittelamerika sehr.

Nach meiner Präsentation begann für mich der spannende Teil der Veranstaltung, nämlich der simultan gedolmetschte Austausch, in dem ich Fragen an die Teilnehmer*innen richten konnte. Hier nur einige meiner Eindrücke: Die Verhältnisse in Mittelamerika sind extrem unterschiedlich. Es gibt Länder, in denen eine Netzabdeckung und die Ausstattung der Schüler mit Endgeräten von bald 100% normal sind (Costa Rica) — und es gibt Länder, in denen das genaue Gegenteil der Fall ist. Und es gibt Länder, innerhalb derer die Unterschiede riesig sind. Entlegene, indigene Bevölkerungsgruppen konnten in Lockdown-Zeiten teilweise gar nicht erreicht werden, sodass man sich dazu entschloss, den gesamten “Unterricht” über staatliche Radiosender, teilweise über das Fernsehen abzubilden. Ein großer Pragmatismus war aus allen Zoom-Fenstern spürbar. Das Thema Datenschutz wird sehr viel anders gehandhabt, hier zeigte man sich an der Diskussion in Deutschland sehr interessiert. Pauschal gesagt: Die Bedenken sind nicht im Ansatz mit denen in Deutschland vergleichbar, in einem Land gestattete die Bildungsverwaltung aus der Not WhatsApp als “Lernplattform” — der Schulleiter hatte dann Mühe, seine Skrupel in die richtigen Bahnen zu lenken, wobei seine Kritik auch den eingeschränkten didaktischen Möglichkeiten dieses Unterrichtens galt. Insgesamt entstand bei mir aber nicht der Eindruck von Fahrlässigkeit oder mangelndem Bewusstsein für Datenschutz, sondern der von Verhältnismäßigkeit und Lösungsorientierung.

Die Herausforderungen waren für viele meiner Gesprächspartner*innen größer als hierzulande. Mitunter gab es einen Lockdown (überhaupt keinen Präsenzunterricht) von März 2020 bis heute (November 2020). Die Haltung meiner Gesprächspartner war sehr reflektiert, niemand kam auf die Idee, Präsenz um jeden Preis zu fordern, sondern Potenziale digitalen Lernens wurden in den Blick genommen, für die Bewältigung der Pandemie-Situation, aber auch darüber hinaus. Interessanterweise waren wir uns in vielen Punkten sehr einig: Auch die beste Ausstattung ist nichts wert ohne ein vernünftiges didaktisches Konzept dahinter, die Beziehung der Lehrperson zu den Lernenden sei von entscheidender Bedeutung, diese braucht für einige Prozesse die persönliche Begegnung, kann aber auch digital konstruktiv gestaltet werden. Digitales Lernen dürfe nicht nur als Corona-Reaktion gedacht werden, sondern als generelle Notwendigkeit und Chance. Dauerhafte hybride Lernsettings seien anzustreben.

Beim Thema Leistungsbewertung gingen die Meinungen der Gruppe auseinander, hier war es schwer, auf einen Nenner zu kommen. Einerseits gab es die Aussage, dass Kompetenzen geprüft würden und kein Wissen. An der Stelle kamen wir allerdings nicht dazu, bis zu Ende zu diskutieren, ob das nun besser online gelingt oder gerade nicht. Es gab auch Teilnehmer*innen, die mit großer Selbstverständlichkeit davon berichteten, dass Prüfungen — auch Abschlussprüfungen — online durchgeführt wurden, mit den jeweils verwendeten Lernplattformen (die bei uns in Deutschland auf dem strengen Prüfstand stehen). Auf der anderen Seite kam es aber auch zu Befürchtungen, eine objektive Leistungsmessung sei per Online-Distanz nicht möglich, schließlich wisse man nicht, wer dann zu Hause die Aufgaben bearbeitet oder hilft. Interessant war für mich, dass die Frage nach digitaler Leistungsbewertung von der Runde gar nicht als spektakulär aufgefasst wurde. Hierzulande erscheint das oft genug wie ein sehr weit entfernter Vorschlag, in Mittelamerika wird das einfach als eine logische Schlussfolgerung mitgedacht.

Diese Gesprächsrunde hat mich sehr beeindruckt. Zum einen stehen die Verantwortlichen in mittelamerikanischen Ländern vor Herausforderungen, die unsere hier in Deutschland stark relativieren. Zum anderen geht man bei aller Vielfalt der Bedingungen und Vorgaben doch sehr pragmatisch, zielorientiert und mit einem Blick für das Wesentliche vor, von dem wir uns hierzulande auch eine große Scheibe abschneiden können. Zuletzt ist auch die generelle Bereitschaft und die Neugier in Richtung des internationalen Austausches etwas, das uns sehr anregen sollte.

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Björn Nölte ☕

Teaching & Learning in Berlin, Germany — Referent Schulaufsicht der Ev. Schulstiftung in der EKBO | früher: Lehrer, Seminarleiter, Oberstufenkoordinator