Die Beltracchi-Methode
Erfahrungsbericht aus dem Unterricht, im Check-up mit Leonard Sommers 6 Forderungen an kreativitätsfördernden Unterricht
Wolfgang Beltracchi ist der größte Kunstfälscher der Geschichte. Ich gebe zu: Ich bin voll gefangen durch diese merkwürdige Faszination, die hier vom Nicht-ganz-Legalen ausgeht. Aber Beltracchi spielt in einer anderen Liga als Bankräuber Dagobert oder andere Kriminelle, die diese Massenwirkung versprühen. Beltracchi ist ein Genie. Der springende Punkt: Er hat keine Bilder kopiert wie andere Kunstfälscher, sondern er hat sich in bekannte Maler und ihre Techniken so tief eindenken können, dass er Werke im Stil der bekannten Maler hergestellt hat, die von der gesamten Kunstwelt jahrelang als Originale akzeptiert wurden. Irgendwann flog er wegen eines falschen Platinweißes auf und wanderte ins Gefängnis. Angeblich hängen bis heute in mehreren Museen der Welt Beltracchis Bilder, ohne dass das jemand weiß. Seine Geschichte ist sehr geeignet, um Schüler*innen zu motivieren, wenn sie von einer inspirierenden Lehrkraft eingebracht wird. Es gibt eine Dokumentation auf einer Streaming-Plattform über ihn und inzwischen findet mal zahlreiches weiteres Material. Ich zeigte den Schüler*innen einen älteren, aber sehr lustigen Auftritt von Beltracchi in der Fernsehshow von Stefan Raab. So bin ich eingestiegen.
Die Methode habe ich so genannt, weil die Schüler*innen vorgehen wie Beltracchi. Unsere Ausgangslage war im Deutschunterricht die Herausforderung, uns mit zeitgenössischer Lyrik in der digitalen Gesellschaft auseinanderzusetzen. Das übliche Vorgehen hätte vorgesehen, noch einmal zu lernen, welche Schritte, welcher Aufbau zu einer Gedichtanalyse und -interpretation dazugehören, bevor wir ein paar Texte, vermutlich verschiedener Autor*innen lesen und besprechen, bevor es an eine schriftliche Gedichtanalyse zu einem neuen Text geht. Anders jetzt nach der Beltracchi-Methode: Wir haben uns auf einen Autor konzentriert: Hannes Bajohr. Die komplexe Aufgabe bestand nun darin, eigene neue Bajohr-Texte zu produzieren – so wie Beltracchi Bilder produziert. Bevor die eigene Produktion losgehen kann, müssen natürlich erstmal Bajohr-Texte studiert werden, um zu erkunden, wie er arbeitet. So wie Beltracchi die alten und neuen Meister studierte, lasen meine Schüler*innen indessen Texte von Hannes Bajohr, um seine Produktionsmechanismen sehr genau kennenzulernen und eigene Ideen der Nachahmung zu entwickeln.
Bajohr kombiniert vorhandene Texte zu neuen und setzt dabei teilweise Algorithmen und Computerprogramme ein. So entstehen kombinierte Kafka-Goethe-Collagen, algorithmisch verarbeitete Bundestags-Debatten oder rechnerisch analysierte Karriere-Ratgeber mit den häufigsten Wendungen aus dieser Textsorte o. ä. Die Ergebnisse sind manchmal lustig, manchmal erschreckend, aber immer interessant — und sie werfen auch Fragen zur Autorschaft und zum Charakter und zur Verbreitung von Literatur in unserer Gesellschaft auf.
Meine Schüler*innen kamen auf sehr unterschiedliche Ideen. Schulische Hausordnungen wurden unter dem algorithmischen Zugriff neu sortiert, eine Schüler*in scannte die Anleitungen aller zu Hause auffindbarer Anleitungen von Brettspielen ein und produzierte daraus die universale Brettspielanleitung, ein Schüler ließ Talk-Show-Platitüden vom Computer neu arrangieren. Eine Schülerin sammelte alle Interpretationen zu Fontanes Effi Briest, die im Halbjahr zuvor in der Methode Master-or-Die entstanden waren, (eine digitale Leichtigkeit in Google Classroom) und produzierte daraus einen algorithmisch kombinierten Text, der auf witzige Weise Gemeinplätze von Interpretationen und Bezüge auf sehr unterschiedliche Kapitel von Effi Briest zur Schau stellte, denn bei den Master-or-Die-Texten hatte sich im vorangegangenen Halbjahr jede*r Schüler*in eine eigene Textstelle ausgesucht.
Nachdem die Texte der Schüler*innen produziert waren, ging der Spaß erst los. Wir platzierten die Texte in unterschiedlichen Social Media-Kanälen und kündigten sie als inoffizielle Neuerscheinungen an. Diese Phase wollten wir dazu nutzen, um das Thema Fake News authentisch zu behandeln, indem wir eigene Falschinformationen aussendeten. Die Schüler*innen hatten die Aufgabe, zu beobachten und zu analysieren, auf welche Art von Postings die an Bajohr interessierte Öffentlichkeit wie reagierte. Nachdem diese Unterrichtssequenz gelaufen war, lösten wir das Ganze auch wieder auf (und sorgten damit für Erheiterung). Vorher passierte jedoch Erstaunliches, denn Hannes Bajohr selbst wurde auf uns aufmerksam und wir luden ihn per Videokonferenz in unseren Unterricht ein.
In dieser eigentlich nicht geplanten dritten Unterrichtsphase diskutierte der Autor mit meinen Schüler*innen über deren Texte, die in seinem Stil verfasst waren. Eine großartige Stunde, die nicht nur Stolz auf die eigene Produktion, sondern auch vertiefte Erkenntnisse und einen höchst authentischen Austausch mit sich brachte.
Parallel zur Bajohr-Recherche, Analyse, der eigenen Textproduktion und dem Gespräch mit dem Autor mussten die Schüler*innen einen Reflexionsbericht verfassen, in dem sie ihr Vorgehen beschrieben, begründeten und Rückschlüsse für zukünftige Projekte daraus zogen. Die Hilfsimpulse, die ich dazu formulierte, lassen sich differenziert oder einheitlich einsetzen.
Im Folgenden soll die Methode mit den 6 Kriterien abgeglichen werden, die Leonard Sommer als besonders hilfreich für die Förderung kreativen Denkens in der Schule formuliert. Sommer interviewte dazu Schüler*innen einer Karlsruher Schule (Leonard Sommer: Wenn Schule auf Ideen bringt. 100 Kreative denken Bildung neu. Edition Sommerlaune 2022, S. 47).
Aus den Antworten der Schüler*innen entstanden 6 Kriterien, mit denen Kreativität in der Schule gefördert werden kann. Man wird sehen: Die Beltracchi-Methode ist nicht die Lösung für alle kreativitätshemmenden Probleme in der Schule. Aber Sommers Kriterien können sehr schön am konkreten Unterrichtsbeispiel illustriert werden.
I. LEHRKRÄFTE ZU INSPIRIERENDEN LERNBEGLEITERN AUSBILDEN.
Das spielt eine größere Rolle, als man üblicherweise zugibt. Wenn ich über die Beltracchi-Methode in Vorträgen oder bei Workshops spreche, merke ich an mir selbst die diebische Freude, die mir diese Methode bereitet. Die eigene Begeisterung für einen eigentlich Kriminellen, das Bedürfnis, mit den Lernenden als Team etwas Besonderes zu machen, der Wunsch, den Schüler*innen mit dem Einführungsfilm zu dem Fälscher ein Lächeln ins Gesicht zu bewegen — all das sind Elemente, von denen ich behauptet, dass sie zu mir als inspirierende Lehrkraft gehören. Ein bürokratisches Abarbeiten dieser Methode gibt es nicht — das ist zum Scheitern verurteilt. Die Methode benötigt die Inspiration der vermittelnden Person, den Sachbearbeiter*innen unter den Lehrer*innen empfehle ich sie nicht. Insofern passt die Methode zu dem Anspruch „inspirierende Lernbegleiter“, dem Leonard Sommer die höchste Priorität einräumt.
II. SCHÜLER BRAUCHEN ZEIT FÜR KREATIVES DENKEN.
Der Vorteil bei projektorientiertem Arbeit erweist sich oft als genauso großer Nachteil: mehr Zeit. Insgesamt beschäftigten sich die Lernenden hier mit einem Autor länger als üblicherweise, sie lernten zudem eine geringere Breite an Autor*innen kennen — konnten sich demgegenüber aber intensiver auf selbst ausgesuchte Texte Bejohrs einlassen und hatten ausreichend Zeit für die eigene Produktion. Insgesamt also eine Verlagerung von der Breite in die Tiefe, zugunsten des eigenen kreativen Prozesses.
III. KREATIVITÄTSFÖRDERNDE TECHNIKEN SOLLTEN STANDARDISIERTE LEHRMETHODEN ERSETZEN.
So sollen Schüler*innen etwas über zeitgenössische Lyrik lernen? Ja, über die Texte von Hannes Bajohr wurde auf diesem Weg sicherlich mehr gelernt, als in herkömmlicher Weise, denn die Lernenden haben sich aus einem halbwegs authentischen Anlass heraus mit seinen Texten beschäftigt. Sicherlich ist auch dieser Anlass vom planenden Lehrer konstruiert, doch für die Schüler*innen erzeugt dieser Anlass eine größere Relevanz. Die standardisierte Lehrmethode, auch die standardisierte Form der Gedichtanalyse, wurde demgegenüber vernachlässigt. Meines Erachtens zu Recht: Wir lassen die Lernenden schon viel zu viel in Formaten lernen, die eigens nur für die Schule kreiert wurden — damit fördern wir mitunter eine Kompetenzsimulation und nicht die Kompetenz, z. B. mit Literatur selbständig umzugehen.
IV. ES BEDARF BEURTEILUNGS-METHODEN, DIE GEMEINSCHAFTLICHES LERNEN FÖRDERN.
Mein aktuelles Lieblingskriterium (aus Gründen, siehe #NotenAde & #NeueKollaboration auf Social Media). Und die Beltracchi-Methode erfüllt es nur in Ansätzen. Die Schüler*innen erhalten Einzelbewertungen für ihre Reflexionsberichte. Allerdings ist es schon so, dass Kollaboration dort eine Rolle spielt. Die Lernenden reflektieren ihre Absprachen beim Posten einzelner Texte, auch ihre Zusammenarbeit beim Umgang mit Reaktionen auf Social Media und gegenseitige Hilfe beim Konzipieren geeigneter eigener Bajohr-Texte. Für mich als Lehrkraft war es interessant zu sehen, dass Kollaboration in ganz unterschiedlichem Maße gesucht, gemieden oder als notwendig angesehen wurde. Es gibt mit Sicherheit zielgerichtete Methoden, die direkt bei gemeinschaftlichem Lernen einsetzen; aber die Beltracchi-Methode steht einer Kultur der Kollaboration (siehe VI.) mit Sicherheit nicht im Weg.
V. COACHING VON INDIVIDUELLEM TALENT UND LEIDENSCHAFT SOLLTE DIE MASSENAUSBILDUNG ERSETZEN.
Bei einer regulären Gedichtinterpretation würde man zu den üblichen Kriterien einer erwarteten Leistung Feedback geben. Vielleicht hätte man noch ein Kriterienraster. Bei der hier vorgestellten Methode hat man die Möglichkeit, ein wenig in Richtung individualisiertem Feedback zu gehen, denn die Produkte der Lernenden und ihre Reflexionsberichte sind unterschiedlicher, als das bei üblichen Analysen von Lyrik der Fall ist.
VI. SCHULE MUSS EINE KREATIVE KULTUR FÖRDERN, DIE SICH IN GESUNDER RISIKOBEREITSCHAFT, NEUGIER, ZUSAMMENARBEIT UND SPIELFREUDE AUSDRÜCKT.
Die didaktisch verschmitzt daherkommende Beltracchi-Methode befördert genau diese Kultur in einem Maße, das noch im herrschenden traditionellen System unterzubringen ist. Bringe ich meinen Text wirklich über Social Media in die Öffentlichkeit? (Risikobereitschaft) Wie kann ich meine Idee mit digitaler Technik verwirklichen und was kommt dabei tatsächlich heraus? (Neugier) Mit wem arbeite ich in welcher Form in dieser Unterrichtsreihe zusammen? Mit wem teste ich meine ersten Ergebnisse? (Zusammenarbeit) Gelingt es uns, eine interessierte Öffentlichkeit mit unseren falschen Bajohr-Texten zu täuschen? (Spielfreude). Diese Faktoren gelten fast gleichermaßen auch für die Lehrperson, was den kollaborativen Charakter der Unternehmung nochmals unterstreicht.