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Das digitale Zeugnis

Bericht von der ersten Erprobung

Björn Nölte ☕
3 min readJul 14, 2022

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Sommer 2022. An der Evangelischen Grundschule Berlin-Zehlendorf wurden in diesem Jahr in der Klasse 1 zum ersten Mal digitale Zeugnisse als Ergänzung zu den regulären verteilt. Der Clou: Das normale Zeugnis erhielten die Eltern der Erstklässler noch einmal als PDF, hier jedoch bestückt mit mehreren Links. Steht im Abschnitt “Musik” neben dem Verbalurteil ein “click here”, dann gelangen Schülerin und Eltern über diesen Link zu einem kurzen Video, das die Schülerin beim Musizieren zeigt. Eingescante Bilder aus dem Lernatelier, Audio-Aufnahmen aus dem Fremdsprachenunterricht, Videos von Kurzpräsentationen, Gedichtvorträgen oder dem Erklären von Mathe-Tricks: Überall dort, wo sinnvoll passendes Material vorlag, wurde es mit der entsprechenden Stelle im Zeugnis verknüpft. So hat jede Lernende mindestens 2, im Schnitt eher 5–6, manchmal 8 oder 9 digitale Belege von Lernerfolgen des Schuljahres.

Dahinter steckt der Gedanke, dass eine Rückmeldung in dieser Form viel aussagekräftiger ist als eine Ziffer oder auch ein Verbalurteil. Außerdem lassen sich auf diese Art Lernfortschritte im Schuljahr dokumentieren: Wie liest Jonas zu Beginn des Schuljahres, wie liest er am Ende? Die digitale Variante kommt in der gleichen äußeren Gestalt wie das Original-Zeugnis daher. Die Aufmerksamkeit von Eltern und Lernendem selbst ist gegenüber dem Zeugnis höher als gegenüber einer anderswo abgelegten Linksammlung. Daher haben wir uns für dieses Vorgehen entschieden in der Hoffnung, dass sich das Interesse etwas wegbewegt von der absoluten Orientierung an Ziffern und Verbalbeurteilungen. Wünschenswert ist ein größeres Interesse an den individuellen Leistungen, die z. B. über Video-Nachweise abgebildet werden können. Möglicherweise ergibt die Auswertung dieses ersten Durchgangs auch, dass eine andere Form funktionaler ist.

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Empfehlenswert ist es, von Beginn des Schuljahres an digitale Artefakte der Lernenden zu sammeln und gleich direkt in das entstehende Zeugnis zu verlinken. Auf diese Art können Lernfortschritte sichtbar gemacht werden, der Arbeitsaufwand am Ende des Schuljahres reduziert sich und die Dokumentation kann in Lern- und Entwicklungsgesprächen genutzt werden. Das entstehende Zeugnis erhält damit einen Prozesscharakter, der es in die Nähe von Portfolio-Methoden rückt. Seine Eigenschaft als oft ungeliebter Deus ex Machina, der am Ende des Halbjahres unvermeindlich und unveränderbar auf die Lernenden herabstürzt, verliert es damit vielleicht ein wenig.

Dadurch, dass keine Anzahl von Belegen und auch keine Verpflichtung von Bereichen vorgeschrieben ist, ergibt sich eine große Freiheit, die dazu führt, dass wirklich nur Belege verlinkt werden, die einen sinnvollen Aussagewert haben. Ferner ist es möglich, auch kollaborative Leistungen sichtbar zu machen. An unserer Schule waren das z. B. Gruppenchoreographien oder eine kollaborative “Rhythmusmaschine”.

Folgende Punkte müssen bei einem Einsatz bedacht werden:

  • Es sollte zumindest ein ganzer Jahrgang in gleichem Maße daran teilhaben können, es empfiehlt sich also eine enge Abstimmung unter den Kolleg*innen. Hilfreich ist auch ein Beschluss der Schulkonferenz.
  • Die Eltern sollten sehr intensiv informiert werden: Es handelt sich um ein freiwilliges Zusatzprodukt, jederzeit kann die Löschung eines digitalen Zeugnisses veranlast werden, alle Eltern bekommen nur das Zeugnis des eigenen Kindes etc. Einverständniserklärungen der Eltern sind hilfreich.
  • Alle Fragen der Datenspeicherung und -sicherung, der Kommunikationswege un der Aufbewahrungsfristen sollten mit dem zuständigen Datenschutzbeauftragten und dem Schulträger im Vorhinein besprochen werden.

Auf lange Sicht verbinden sich folgende Hoffnungen mit dem digitalen Zeugnis:

  • Der Fokus der notengebundenen Fremdbeurteilung (bzw. der Verbalbeuteilung) verschiebt sich hin zu authentischen Veranschaulichungen und Belegen des Lernprozesses. Lernende und Eltern interessieren sich mehr für den Lernprozess und weniger für dei summative Fremdbeurteilung.
  • Das übers Halbjahr entstehende Zeugnis gewinnt Portfolio-Charakter und wird zum Gegenstand von Lerndialogen bzw. Lernberatung.
  • Der empfundene Aufwand für die Lehrkräfte verringert sich durch die permanente Anreicherung des Zeugnisses über ein halbes Jahr.
  • Es wird eine datenschutzsichere und gleichzeitig komfortable Lösung gefunden, um die digitalen Zeugnisse zu speichern und zu kommunizieren.

Wer mehr erfahren möchte oder konkrete Beispiele sehen will, kann zur Tagung mobile.schule in Hannover am 26. und 27.09.2022 kommen:

https://mobileschule-tagung.de/tagung/

Dort stelle ich mit der Schulleiterin der Ev. Grundschule Zehlendorf, Yvonne Barckhausen, das digitale Zeugnis im Kontext einer passenden Lernkultur vor.

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Björn Nölte ☕

Teaching & Learning in Berlin, Germany — Referent Schulaufsicht der Ev. Schulstiftung in der EKBO | früher: Lehrer, Seminarleiter, Oberstufenkoordinator