Chinesisch und Werken

Zwei ungewöhnliche Beobachtungen zur schulischen Leistungsbewertung

Björn Nölte ☕
4 min readOct 15, 2021

Kürzlich konnte ich an einem Gymnasium umfangreich im Unterricht hospitieren. Von den vielen Eindrücken, die ich sammeln konnte, möchte ich zwei Beobachtungen aus dem Bereich der Leistungsbewertung herausgreifen.

Werken

Die Holzwerkstatt

Das Gymnasium verfügt über eine professionelle Holzwerkstatt. Das Fach WAT (Wirtschaft — Arbeit — Technik) wird in der Klasse 8 in Projektform durchgeführt: Im Unterricht arbeiten die Schüler*innen in Kleingruppen an ihren Projekten, z. B. bauen sie Bänke, die dann auf dem Schulgelände benutzt werden. In dem Unterricht gibt es keine formale Struktur, die man von Unterrichtsbesuchen im Referendariat kennt (Einstieg — Erarbeitung — Sicherung — Transfer), sondern zu Beginn der Stunde sagt die Lehrkraft allen Gruppen kurz und am Objekt, wo sie nachbessern müssen und was ihre heutige Aufgabe ist. Man könnte es formatives Feedback nennen. Dann legen ausnahmslos alle Schüler*innen mit großem Eifer los, und zwar in vielfältiger Form: Aufgaben werden aufgeteilt, eine Schülerin gibt einer anderen Gruppe Tipps an der Holzzwinge, zwei Schüler helfen beim Transport neuer Werkzeuge und verteilen sie, die Lehrkraft ist ständig auf Achse, gibt Feedback, Tipps, zeigt, leitet in Details an. Alle Lernenden sind in höchstem Maße involviert. Teils geht es darum, mathematische Kenntnisse anzuwenden (bei Winkelsummen z. B.), teils geht es um kreative Problemlösungen, teils geht es um effektive Kollaboration. Der Transfer ist also by-the-way eingebaut. Welche Geheimnisse hat dieser Unterricht?

  • Er ist produktorientiert, wie es kaum mehr geht. Auf den gebauten Möbeln werden die Schüler*innen in jeder Pause sitzen können.
  • Er beteiligt die Schüler*innen an der Planung, gibt ihnen Verantwortung.
  • Er wird von einem unbestrittenen Experten seines Faches geleitet. Bei jeder Erklärung zum Ansetzen des Bohrers oder Aufbringen des Holzleims hingen ihm die Lernenden an den Lippen.
  • Er ist eingebunden in einen noch größeren Projektrahmen. Zur gleichen Zeit arbeitet ein anderer Teil der 8. Jahrgangsstufe parallel an anderen Teilprojekten. Weinbau ist ein großes Thema an der Schule. Es gibt einen schuleigenen Weinberg, es wird eigener Wein produziert und vermarktet. Während ein Teil der Achtklässler in der Holzwerkstatt wie beschrieben die Bänke zimmert, die oben auf dem Weinberg platziert werden, kümmern sich andere Teilgruppen um die Finanzen, das Marketing oder die Verarbeitung der Feigen, die auch am Weinberg wachsen, zu besonderen Süßspeisen in der Schulküche. Zum Halbjahr werden die Gruppen gewechselt. Kontakt mit Alkohol haben erst die Oberstufenschüler*innen. So fühlt sich jede*r Jugendliche*r als Teil des Ganzen. Hieraus entsteht eine enorme Identifikation und Motivation.

Eigentlich sollte ja von einer Beobachtung zur Leistungsbewertung berichtet werden. Aus dem beschriebenen Kontext heraus ist das leichter zu verstehen. Jetzt zu der Beobachtung: In der Holzwerkstatt fragte ein Schüler beiläufig nach den aktuellen Noten. Der Lehrer sagte ihm mit einer gewissen Selbstverständlichkeit, dass alle Schüler*innen auf 1 stünden (sehr gut). Angesichts des Eifers der gesamten Gruppe und des Fortschritts sowie der Qualität der Produkte war das für den äußeren Beobachter auch durchaus nachvollziehbar. Jede Gaußsche Normalverteilung wäre hier fehl am Platze. Aber war das für die Lernenden entscheidend? Nein, die Hinweise zu ihrer aktuellen Arbeit, die Perspektive auf das fertige Produkt (wie muss die Bank gebaut sein, damit sie oben auf dem Weinberg stabil jedem Wetter trotzt?) — das waren die entscheidenden Motivationsgrößen. Da kann es gut sein, dass die gesamte Gruppe im Einserbereich steht — trotz dieses erstaunlichen Durchschnitts war das nach meiner Beobachtung für die Lernenden weniger interessant als ein fertig verschraubtes eigenes Standbein der Bank. Diese Schüler*innen hätten vermutlich auch ganz ohne Noten genauso gearbeitet.

Chinesisch

Projektlernen und Handwerk sind aber nicht die einzigen Schwerpunkte dieser Schule. Daneben gibt es z. B. sehr aufwändig betriebene Bläser-Ensembles in Musik und es gibt einen sehr ambitionierten Bereich der Fremdsprachen.

Der Chinesisch-Unterrichtsraum

So haben die Schüler*innen auch die Möglichkeit, Chinesisch zu lernen, und zwar bei einer Muttersprachlerin. Der Unterricht läuft sehr formalisiert ab, in gewisser Weise das Gegenteil von der Holzwerkstatt: Eines nach dem anderen werden chinesische Schriftzeichen gemeinsam geschrieben, wobei eine großartige digitale Animation hilft, die farblich markiert genau zeigt, in welcher Reihenfolge am besten welche Striche gezogen werden. Dann wird die Aussprache chorisch gemeinsam gesprochen und geübt, nebenbei wird die Bedeutung geklärt. So geht es Zeichen für Zeichen, Tafel und Hefte füllen sich. Aktivität und Motivation waren auch in diesem (mechanistischen) Unterricht sehr hoch. Trotz der großen Unterschiede gibt es auch eine Parallele zur Holzwerkstatt: Die muttersprachliche Lehrerin wird z. B. als absolute Fachfrau angesehen. Die Beobachtung zur Leistungsbewertung geht jedoch in eine andere Richtung: Am Ende der Stunde kündigte die Lehrerin an, dass “am Donnerstag der Test geschrieben wird” — und: Bei den Schüler*innen brach großer Jubel aus. Keinesfalls ironisch, sondern man freute sich wirklich darauf, in diesem Test die Kenntnisse zu den gelernten Schriftzeichen unter Beweis stellen zu können — und das ganz sicher in einem recht konventionellen Format der Leistungsüberprüfung.

Fazit

Fazit 1: An ein und derselben Schule können — sogar in derselben Jahrgangsstufe — ganz unterschiedliche Kulturen der Leistungsbewertung zum Erfolg des Lernens führen. Vielleicht ist die Mischung sogar ein Erfolgsgeheimnis?

Fazit 2: In einem projektorientierten Unterricht kann die Motivation durch die soziale Eingebundenheit, die empfundene Autonomie und hohe Selbstwirksamkeit so hoch sein, dass Noten zur Nebensache geraten.

Fazit 3: Wenn aus dem Gegenstand heraus so viel Lernwille entsteht wie im Fall des Chinesisch-Unterrichts, können höchst konventionelle Leistungsbewertungen sehr motivierend wirken.

Fazit 4: In beiden Fällen ist die hohe fachliche Expertise der Lehrpersonen ein großer Vorteil für die Lernmotivation (nicht überraschend).

Btw: Diese tolle Schule liegt vor den Toren Berlins bzw. Potsdams und sucht zum nächsten Schuljahr eine neue Leitung. Nähere Informationen gerne per DM.

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Björn Nölte ☕

Teaching & Learning in Berlin, Germany — Referent Schulaufsicht der Ev. Schulstiftung in der EKBO | früher: Lehrer, Seminarleiter, Oberstufenkoordinator